Industrie

Neue Chancen für alte Standorte

Der Deindustrialisierung, also der Verlagerung von industrieller Produktion an günstigere Standorte im Zuge der Globalisierung, waren bereits viele Regionen der Welt ausgesetzt. Dieser Prozess setzt sich stetig fort – für die Regionen bedeutet der Strukturwandel viel: Mit den Veränderungen in Braunkohle-, Stahl- und Autoindustrie kommen weitere neue Aufgaben auf die Gesellschaft zu. Gleichzeitig können Industriestandorte zu Ankerpunkten eines ressourcenschonenden und kulturellen Wandels werden.


Ein Plädoyer von Timon Wehnert

Die Clubräume der Sociedad Bilbaina in Bilbao, ein Ort wie aus einem Film: ein Gentlemen‘s Club, holzvertäfelt, mit alten Bildern an den Wänden, Billardtischen und einer Bibliothek mit wertvollen Exemplaren aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Ein Anachronismus, nicht nur weil diesen 1839 gegründeten Club seit kurzem auch Frauen besuchen dürfen, sondern weil er vom vergangenen Reichtum der Stahlindustrie in Bilbao zeugt, während heute an der Stelle der alten Stahlwerke unten am Ufer der futuristische Gehry Bau des Guggenheim Museums steht - das neue Wahrzeichen der Stadt.

Der Glanz alter Tage tritt in vielen alten Industrieregionen etwas unvermittelt hervor: die Stadthalle der einstig reichen Textilstadt Wuppertal, die Villa Krupp im Ruhrgebiet. Symbole für die wirtschaftliche Stärke bestimmter Industrien in den jeweiligen Epochen. Auch wenn die Arbeiter und deren Familien natürlich nicht in Villen, sondern aus heutiger Sicht sehr ärmlich gehaust haben. Aber heute sind selbst ihre Siedlungen teilweise denkmalgeschützt und verkehrsberuhigt als Wohnorte begehrt.

Im Ruhrgebiet wird einem die industrie-historische Spurensuche leicht gemacht. In vielen anderen Regionen muss man wesentlich genauer hinsehen, um zu erkennen: Ach ja, hier gab es auch mal eine bedeutende Industrie, die verschwunden ist oder ein Nischendasein fristet. Dabei sind die Produkte ja nach wie vor begehrt – Stahl, Textilien, Salz …  – nur ist die industrielle Produktion an günstigere Standorte weitergezogen. Vielfach verlieren wir sie aus dem Blickfeld, weil das Weiterziehen zunehmend ein globaler Prozess geworden ist. Das Weiterziehen hat einen Namen: Strukturwandel. Allerdings nur dort, wo die industrielle Produktion abwandert. In den Regionen, in die sie zieht, wird es Innovation genannt.

Innovationen und günstigere Produktionsbedingungen auf der einen Seite der Welt führen schon seit langem zu Strukturwandelprozessen auf der anderen Seite, in den alten Hochburgen. Oft kam der Wandel für die alten Regionen überraschend. In den 1960er Jahren wurde im Ruhrgebiet Kohle „auf Halde“ produziert - in der Hoffnung, dass die Nachteile im globalen Wettbewerb nur vorübergehender Natur wären. Doch die unglaubliche Zahl von 600.000 direkt im Kohlebergbau Beschäftigten im Ruhrgebiet wurde immer kleiner, bis 2018 die letzte Zeche geschlossen wurde.

Manchmal sind globale Trends jedoch klar erkennbar. Der Übergang zu einer CO2-armen und schließlich CO2-freien Wirtschaftsweise ist eine solche Entwicklung: Sie vollzieht sich schon – weltweit! –, aber sie wird auch noch einige Jahrzehnte andauern. War unsere Aufmerksamkeit in der Vergangenheit hier oft auf die klassische Energiewirtschaft und vor allem die Stromproduktion gerichtet, so wird heute immer offensichtlicher, dass mit diesem Prozess der Umbau ganzer Industrien verbunden ist – und das stellt die etablierten Industrieregionen vor große Herausforderungen.

 

Renewables Pull

Industriestandorte sind sehr häufig dort entstanden, wo Energie billig und in großer Menge zur Verfügung stand. Auch in Zukunft wird für die energieintensive Industrie, also etwa Stahl-, Zement- oder Chemieindustrie, die Verfügbarkeit von billiger Energie ein wichtiger Standortfaktor sein. In einer Welt ohne CO2-Emissionen werden also gerade Regionen mit reichlich verfügbaren und billigen Erneuerbaren Energien zunehmend attraktiver für die Industrie.

Wie stark dieser „Renewables Pull“ gegenüber anderen Standortfaktoren sein wird, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Klar ist aber, dass die etablierten Industriestandorte langfristig planen müssen und schon jetzt in neue Infrastrukturen investieren müssen: sei es in Wasserstoffpipelines oder Stromtrassen, um die erneuerbar erzeugte Energie effizient und günstig in die Industrieregionen zu transportieren.

Deutschland importiert aktuell etwa 70 Prozent seiner Primärenergie. Auch wenn die erneuerbaren Energien das Potenzial bergen, die Energieimportquote zu senken: Als dicht besiedeltes Industrieland wird Deutschland auch in einer 100-Prozent-erneuerbaren Welt Energie importieren müssen. Power to X – also die Herstellung synthetischer Kraftstoffe mit erneuerbarem Strom ist die eine Option. Eine andere, dass sehr energieintensive Vorprodukte nicht mehr in Deutschland hergestellt werden. So könnten Stahlwerke in Zukunft weniger Eisenerz, dafür aber mehr vorreduzierten Eisenschwamm importieren.

Jede Region wird versuchen, einen möglichst hohen Anteil der bestehenden Wertschöpfungskette zu halten. Ein zentraler Faktor im globalen Wettbewerb wird es sein, möglichst bald und zu niedrigen Kosten CO2-arm und schließlich CO2-neutral zu produzieren. Immer mehr Industrieregionen in Europa sehen daher in ambitioniertem Klimaschutz eine Chance: Wenn die in der Region ansässigen Unternehmen frühzeitig Investitionen in den Klimaschutz tätigen, dann binden sie sich einerseits an den Standort und stärken andererseits ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit.

 

Infrastrukturen – eine Gemeinschaftsaufgabe

Natürlich müssen die einzelnen Firmen Innovationen vorantreiben. Aber ein Blick auf Infrastrukturen zeigt, dass die Transformation hin zu einer nachhaltigen, CO2-neutralen Wirtschaft nicht von Einzelunternehmen allein gestaltet werden kann. Industrielle Prozesse, für die heute Kohle, Öl oder Erdgas verwendet werden, werden in Zukunft (erneuerbar erzeugten) Strom oder Wasserstoff nutzen.

Beides – Strom- und Wasserstoffverbrauch – wird gegenüber heute ansteigen. Es ist also nötig, die entsprechenden Infrastrukturen zu schaffen: Stromleitungen, Wasserstoffpipelines. Dies erfordert große Investitionen – unter großer Unsicherheit. Denn wenngleich viele technologische Möglichkeiten schon jetzt absehbar sind - etwa die Stahlproduktion über Direktreduktion mit Wasserstoff (statt Kohle) - so ist es doch nicht vorhersehbar, wie hoch genau der Wasserstoffbedarf einer Industrieregion im Jahre 2040 sein wird.

Abwarten aber ist keine Option - weder im Sinne des Klima­schutzes, noch vor dem Hintergrund des zunehmenden globalen Wettbewerbs. Neue Infrastrukturen für Strom, Wasserstoff und Daten müssen jetzt geplant und gebaut werden. Hierfür ist es notwendig, dass sich Industrieregionen als Region verstehen, dass die verschiedenen Wissens- und Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zusammenkommen und sich auf zumindest grobe Fahrpläne für die Region einigen. Sich hier auf die Innovationskraft einzelner Unternehmen zu verlassen, greift zu kurz. Infrastrukturen sind Gemeinschaftsaufgaben.

Die Jagd nach qualifizierten Fachkräften

Historisch betrachtet sind schon immer die Arbeiter in die Industrieregionen gezogen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhundert war das oft die (bitter-)arme Landbevölkerung, nicht nur aus dem eigenen Land. Trotz der teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen waren Industrieregionen für Arbeitsmigranten attraktiv. Für die Schwerindustrie waren vor allem billige Arbeitskräfte nötig. Im Ruhrgebiet entstand daher erst spät ab 1965 die erste Universität: War es früher vorteilhaft, einem Großteil der Bevölkerung den Zugang zu Bildung zu verwehren, um möglichst viele, billige Arbeitskräfte zu haben – so hat sich das Blatt in der modernen Wissensgesellschaft gewendet. Hoch qualifizierte Fachkräfte sind ein wichtiger Standortvorteil geworden.

Ein kleines Gedankenexperiment: Was macht das Silicon Valley oder München wirtschaftlich so erfolgreich? Bei aller Unterschiedlichkeit sind beide Regionen auch Standorte neuer dienstleistungs- und IT-orientierter Firmen. Beide haben keine große Vergangenheit in der energieintensiven Industrie. Ihre ökonomische Stärke fußt auch auf dem Vorhandensein hoch qualifizierter Fachkräfte. Auffällig ist, dass beides Regionen inmitten sehr schöner Natur sind und hohe Lebensqualität aufweisen. Das alleine reicht natürlich nicht – aber es hilft sicherlich im Wettbewerb um die schlauesten, am besten ausgebildeten Köpfe.

Viele Industrieregionen haben das inzwischen erkannt. Der blaue Himmel über der Ruhr war nur der Anfang. Die internationale Bauausstellung Emscher Park, der Phoenix-See in Dortmund sind Beispiele, wie alt-industrielle Regionen gezielt attraktiv gemacht wurden, so dass auch die gut Ausgebildeten in der Region bleiben oder sogar gerne dort hinziehen. Aber vielfach ist noch ein Umdenken nötig. Viele Bürgermeister*innen und kommunale Verwaltungen betreiben noch eine sehr klassische Wirtschaftsansiedlungspolitik: Firmen ansiedeln, um Arbeitsplätze zu ­schaffen. Im Wettbewerb um gute Fachkräfte muss es aber auch um andere Faktoren gehen: Was macht gute Lebensqualität aus, wenn nicht Kitas, gute Schulen, eine interessante Arbeit, Natur, Kultur, Kunst?

 

Neues erfinden – oder sich neu erfinden?

In einem der ersten Interviews, in dem Elon Musk den Standort der ersten Tesla-Gigafactory in Europa bekannt gibt, lobt er die Ingenieurskunst der deutschen Autobauer. Er sagt aber auch diesen Satz: “We are also going to create an engineering and design center in Berlin, because I think Berlin has some of the best art in the world”. Manchem mag es wichtig sein, darauf hinzuweisen, dass die Teslafabrik gar nicht in Berlin, sondern im Land Brandenburg gebaut wird... Aber auf jeden Fall entsteht sie nicht in Wolfsburg, München oder Stuttgart.

Innovationssprünge stellen Industrie­regionen vor riesige Herausforderungen. Der Übergang vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb entwertet in rascher Geschwindigkeit das in Jahrzehnten aufgebaute Wissen zu Motoren und Getrieben in der Automobilindustrie und bei ihren Zulieferern. Kann man wirklich hoffen, dass ein hochspezialisierter Getriebehersteller in Zukunft die IT für selbstfahrende Autos entwickelt – nur weil beides Bestandteil eines PKWs sein könnte?

Erfolgreiche Industrieregionen sind gut darin, Neues zu erfinden und in der Lage, aufbauend auf bestehenden Infrastrukturen und Kompetenzen die angebotenen Produkte zu optimieren. Aber viele Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – und hierzu zählen an erster Stelle sowohl Klimaschutz als auch Digitalisierung – werden Industrieregionen nur dann meistern können, wenn sie sich, zumindest in Teilen, neu erfinden.

Dass das geht, zeigen Beispiele aus der Vergangenheit. Das größte Risiko dürfte aber darin bestehen, zu lange am Alten festzuhalten – und Kohle auf Halde zu produzieren, in der Hoffnung, dass die Kohle zurückkommt.


Timon Wehnert ist Physiker und leitet das Büro Berlin des Wuppertal Instituts. Er forscht zu Strukturwandel und Innovation im Bereich Zukünftige Energie- und Industriesysteme.

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