Das Klimaschutzgesetz von 2021 gibt die Ziele vor: 65 Prozent weniger Treibhausgas-Emissionen bis 2030, 88 Prozent bis 2040, Klimaneutralität 2045, aufgeteilt auf einzelne Sektoren.
Die andauernde Überschreitung der Emissionsbudgets in den Bereichen Verkehr und Gebäude hatte zur Novellierung des Klimaschutzgesetzes 2024 geführt – es fehlt nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten. Damit sind Einzelziele aufgehoben, das erwartete Gesamtziel entscheidet über die Maßnahmen, die erst später kommen.
Der Projektionsbericht des Umweltbundesamtes stellte sogar die Erreichung des 2030er Klimaziels in Aussicht. Schon 2023 und in seinem Prüfbericht vom April 2024 hatte der Expertenrat für Klimafragen diesen Optimismus bezweifelt. Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hatte 2024 auf das bereits überschrittene Emissionsbudget für das 1,5-Grad-Ziel hingewiesen.
Nun hat der Expertenrat Klima, beauftragt von der Bundesregierung aus Anlass der KSG-Novelle, ein Sondergutachten zur Prüfung der Projektionsdaten 2024 vorgelegt. Denn das neue KSG sieht vor, dass der Rat unabhängig feststellt, ob die Summe der projektierten Jahresemissionsmengen in den Jahren 2021 bis einschließlich 2030 tatsächlich das Ziel trifft.
Projektion mit falscher Perspektive
Laut UBA-Projektionsdaten 2024 würde das im KSG vorgegebene Emissionsbudget für den Zeitraum 2021 bis 2030 nur sehr knapp eingehalten, kumulierte Einzelverfehlungen insgesamt aber kompensiert.
Der Expertenrat bestätigt nun nach der Prüfung, dass die Gesamtemissionen tatsächlich substanziell sinken würden, "allerdings vermutlich weniger stark als in den Projektionsdaten ermittelt", so Hans-Martin Henning, Vorsitzender des Expertenrats.
Der Expertenrat hält die projizierten Emissionen in den Sektoren Energie, Gebäude und Verkehr sowie – mit Einschränkungen – auch in der Industrie für unterschätzt.“
Gründe hierfür sieht der Expertenrat unter anderem in aktuellen Entwicklungen, die bei der Erstellung der Projektionsdaten nicht erfasst wurden. Dazu zählen insbesondere die Kürzungen im Klima- und Transformationsfonds, die die Projektion nicht berücksichtigte, aber auch veränderte Markterwartungen für Gaspreise und CO2-Zertifikatspreise im EU-Emissionshandel ETS. Zudem trügen auch methodische Limitierungen zu möglichen Unterschätzungen bei.
„In Summe können wir die von den Projektionsdaten 2024 ausgewiesene kumulierte Zielerreichung für die Jahre 2021 bis 2030 nicht bestätigen, sondern gehen im Gegenteil von einer Zielverfehlung aus", stellt Henning zusammenfassend fest.
Fokus auf Verkehr und Gebäude legen
Laut Novelle des Klimaschutzgesetzes gibt es bei erstmaliger Zielüberschreitung keine unmittelbare Handlungsfolge für die Bundesregierung. Auch die projizierten und vom Expertenrat bestätigten Verfehlungen der Ziele unter der europäischen Lastenteilung ab dem Jahr 2024 und des Ziels von mindestens 65 Prozent Emissionsminderung bis zum Jahr 2030 verpflichten die Bundesregierung nicht zu weiterer klimapolitischer Aktivität.
„Vor diesem Hintergrund empfehlen wir, dennoch nicht auf das abermalige Eintreten einer Zielverfehlung zu warten, sondern die zeitnahe Implementierung zusätzlicher Maßnahmen zu prüfen. Dies gilt umso mehr, da wir bei unserer Analyse der Projektionsdaten 2023 bereits letzten Sommer eine solche Zielverfehlung festgestellt haben“, merkt die stellvertretende Vorsitzende, Brigitte Knopf, an und ergänzt: „Der Fokus sollte hier auf den beiden für die europäische Lastenteilung relevanten Sektoren Gebäude und Verkehr liegen, die zudem die größten Zielüberschreitungen aufweisen.“
Auch in der Betrachtung über das Jahr 2030 hinaus sieht der Expertenrat Handlungsbedarf. So würden laut den Projektionsdaten die Ziele im Zeitraum 2031 bis 2040 überschritten und das Ziel der Treibhausgasneutralität würde weder bis zum Jahr 2045 noch bis 2050 erreicht.
Zudem würde der Sektor Landnutzung LULUCF laut Projektionsdaten seine im Klimaschutzgesetz festgeschriebenen Ziele weit verfehlen. Statt eine zunehmend ausgeprägte Treibhausgas-Senke zu werden, wäre der Sektor zeitweise sogar eine Quelle. „Insgesamt fehlt für die Zeit nach 2030 eine langfristige Strategie, wie das Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht werden kann“, führt Brigitte Knopf weiter aus.
Hohes Gewicht ohne Verantwortung
Weil die Projektionsdaten im neuen KSG nun das Kriterium für die Auslösung von klimapolitischen Maßnahmen sind, sollten Unsicherheiten, Modelle und Erstellung auch mehr Gewicht bekommen, empfiehlt der Rat.
„Da mit der Novelle des Gesetzes die Handlungsverantwortung bei festgestellter Zielverfehlung auf die Bundesregierung als Ganze überführt wird, sehen wir Klärungsbedarf, wer in der Bundesregierung die Federführung innehat“, so Henning.
Der Expertenrat empfiehlt der Bundesregierung deshalb, rasch durch Verordnungen zu spezifizieren, wie der Prozess zwischen Feststellung der Notwendigkeit von Maßnahmen und dem entsprechenden Beschluss genau ablaufen soll.
Klimaschutz braucht mehr Investitionen
Von Nichtregierungsorganisationen bekommen die Empfehlungen des Expertenrats deutliche Zustimmung. Sie sehen sich in ihrer Kritik am neuen KSG bestätigt. Sie fordern die finanzielle Absicherung von sofortigen Klimaschutzmaßnahmen.
"Die Konzepte für sozial gerechte und praktikable Maßnahmen liegen auf dem Tisch und jetzt ist es an der Bundesregierung zu handeln", so Simon Müller, Direktor von Agora Energiewende Deutschland.
Deutschland sei nicht auf Klimakurs, dabei sei es so einfach, heißt es vom VCD: "Die Regierung muss Tempolimits auf Autobahnen und Landstraßen einführen, klimaschädliche Subventionen abbauen, in Bahn, Bus und Rad investieren", kommentiert Michael Müller-Görnert, verkehrspolitische Sprecher des Verkehrsclubs VCD.
Es räche sich, dass die Bundesregierung bei ihrer Klimapolitik bislang so stark auf finanzielle Maßnahmen setze, beklagt der BUND. Der verordnete drakonische Sparkurs mache das Klimaziel 2030 und darüber hinaus unerreichbar, weil zukunftssichere Investitionen bleiben ausblieben.
Der WWF moniert vor allem die offenbaren methodischen Mängel und fehlerhafte Annahmen des Projektionsberichts. Er kritisiert ebenfalls den Sparhaushalt der Bundesregierung: „Wir brauchen dringend einen Haushalt, der langfristig an den Klima- und Naturschutzzielen ausgerichtet ist und Maßnahmen dafür auskömmlich unterstützt. Jeden Euro, den wir jetzt wegzukürzen versuchen, müssen wir später doppelt und dreifach ausgeben."
Ausnahme oder “Goldene Regel”
Weil an eine Aufhebung der Schuldenbremse für die Finanzierung der Klimapolitik mit dieser und auch der nächsten Regierung nicht zu rechnen ist, plädiert eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) für eine andere Lösung:
Ein Infrastrukturfonds, der wie ein Sondervermögen wie das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr von der Schuldenbremse ausgenommen wäre. Alternativ sei eine „Goldene Regel“ denkbar, die dem Staat erlaube, Kredite im Umfang der Investitionen aufzunehmen, und die als Zusatz zur Schuldenbremse formuliert würde.
Die Summe der nötigen Investitionen in den nächsten zehn Jahren beziffern die beiden Institute auf 600 Milliarden Euro. Damit könnte das Bildungssystem verbessert, der Investitionsstau in den Kommunen beseitigt, Straßen und Schienen verbessert – und die Dekarbonisierung ermöglicht werden.
Nicht zuletzt ließen sich durch schnelles Handeln auch Kosten sparen und Einkommensverluste verringern. Das stärker zu kommunizieren hieße auch, die Akzeptanz für Investitionen und Maßnahmen zu vergrößern.
Mehr dazu im factory-Magazin Kapital, das demnächst erscheint. Wer es bekommen möchte, schreibe uns eine E-Mail. Wer Argumente für das richtige Narrativ benötigt, erhält sie im factory-Magazin Wohlstand.