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Mit Postwachstum gegen die Polykrise

Im multiplen Krisenmodus der Welt führen die bisherigen Lösungsansätze zu einer Steigerung des Ressourcenverbrauchs, weiterer Zerstörung von Natur und Klima und damit größerer Krisenvertiefung. Dass sich Gutes Leben für alle innerhalb der planetaren "Grenzen des Wachstums" eher mit einem "Genug", Suffizienz und Degrowth oder Postwachstum erreichen ließe, sollte eigentlich auf mehr Interesse stoßen.

Eine Emissionswende ist nicht in Sicht. Auch der 27. UN-Klimagipfel hat keine Strategien zur Reduzierung der fossilen Energien hervorgebracht. Die Staaten einigten sich zwar auf einen wie auch immer gearteten Fonds, der die Schäden und Verluste der vom Klimwandel besonders betroffenen Länder mit ausgleichen soll, Maßnahmen, diese Kosten durch eine schnelle Emissionswende zu begrenzen, beschloss er jedoch auch diesmal nicht.

Statt also auf Tempolimit, weniger Auto- und stattdessen mehr öffentlichen Verkehr für alle zu setzen – um nur diesen ressourcen- und treibhausgasintensiven Sektor zu benennen –, wollen die Industriestaaten lieber vielleicht irgendwann einen beliebigen Beitrag in einen noch zu bestimmenden Fonds zahlen, der die ärmsten Länder irgendwie im klimawandelbedingten Elend wenigstens ein bisschen unterstützt.

Immerhin bleibt es beim Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel, das durchaus in Frage stand. Und tatsächlich ließe es sich auch noch zumindest annähernd erreichen, wenn ...

Doch schon vor dem Gipfel war klar, dass die "Energiekrise die Klimakrise übernommen hat", wie es Bill Hare von Climate Analytics ausdrückte. Nicht nur sind unzählige neue Flüssiggasprojekte geplant, die russisches Pipeline-Gas ersetzen sollen, mit denen das 1,5-Grad-Ziel obsolet sein würde. Auch die Investitionen von Banken, Fonds und Staaten in fossile Energieunternehmen sind ungebrochen hoch: Der Anteil der erneuerbaren Energien an der globalen Energieproduktion liegt bei knapp zwei Prozent, die fossilen sind bei über 80 Prozent. Insofern kein Wunder, dass die Klimagipfel-Verhandler*innen von 636 Lobbyisten der Gas-, Kohle- und Öl-Industrie unterstützt wurden – ein Viertel mehr als vor einem Jahr beim Gipfel in Glasgow.

Das existierende globale Wirtschaftsparadigma hat bisher keine Lösungen hervorgebracht, Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum wirksam zu entkoppeln, auch vermeintlichen Ökodiktaturen ist das nicht gelungen, wie im factory-Magazin Freiheit beschrieben.

Insofern liegt es nahe, gleich nach der Weltklimakonferenz doch mal wieder einen Blick auf das Thema Systemwechsel und Postwachstumsstrategien zu legen – also eine Welt mit weitgehend begrenzter Naturausbeutung und trotzdem Wohlstand. Schließlich liegt gerade in der Krise, so billig das auch klingen mag, auch die Chance zum Change.

"Postwachstum und Degrowth sind keine deskriptiven Konzepte, die einfach nur Gesellschaften beschreiben, die nicht (mehr) wachsen", schreiben Andrea Vetter und Matthias Schmelzer im neuen Handbuch Politische Ökologie zum Begriff Degrowth. "Es ist ein explizit normatives Konzept – es geht um die Konturen eines wuünschenswerten, demokratischen Transformationsprozesses."

Das Institut für Ökologisches Wirtschaften (IÖW) und die Vereinigung für Ökologische Wirtschaftsforschung (VÖW) beschäftigen sich schon seit langem mit dem Postwachstumsthema. Das IÖW hat sogar Unternehmen gefunden, die sich dem herrschenden Wachstumsdogma entzogen haben, oder die sich an Bedarfsbefriedigung und Gemeinwohl statt Profiten orientieren. Am 23. November 2022 diskutieren IÖW und VÖW das "Leben und Wirtschaften in planetaren Grenzen" auf ihrer Tagung „Ausgewachsen – Wirtschaften als gäbe es ein Morgen“.

„Wir sind längst im Zustand einer Polykrise angekommen", so Volkswirt Ulrich Petschow vom IÖW. „Postwachstumsansätze können die Gesellschaft resilienter machen, wenn Staat, Markt und Gesellschaft neu austariert werden. Dazu zählen etwa eine erneuerbare, regionale und wachstumsunabhängige Energieversorgung, eine Stärkung des öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektors sowie eine deutliche Aufwertung der Care-Ökonomie.“

50 Jahre nach den „Grenzen des Wachstums“

Die aktuellen Krisen würden zeigen, dass das fossile System bröckele, sagt Thomas Korbun, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des IÖW. "Es hat sich ausgewachsen. Veränderungen müssen jetzt bei denjenigen Strukturen ansetzen, die noch immer auf Wachstum fixiert sind. Vorsorge und Wachstumsunabhängigkeit müssen ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte rücken.“

Alexandra Palzkill, Vorstandsvorsitzende der VÖW fügt hinzu: „Alternative Ansätze kooperativen und gemeinwohlorientierten Wirtschaftens zeigen bereits heute, dass Gegenentwürfe zu den wachstumsabhängigen und damit hochfragilen Organisationsmodellen in unserem Wirtschaftssystem existieren. Auf diesen Erfahrungsschatz aufzubauen und den Dialog zwischen den verschiedenen Communities zu fördern, ist Ziel unserer Tagung.“

Palzkill sagte im Interview zum factory-Magazin Vielfalt, dass es für Unternehmen darum gehen müsse, resiliente Geschäftsmodelle zu entwickeln, und "Ideen überhaupt zu denken, die nicht nur effizient sind. Zu überlegen, was mich denn in einer suffizienten Welt erwartet."

Neue Indikatoren für Wohlstand

„Es wächst die Erkenntnis, dass wir die Zeit der Theoriedebatten überwinden und gemeinsam in die Anwendung finden müssen. In jüngster Zeit diskutieren auch relevante Mainstream-Institutionen darüber, wie Wohlstand neu gefasst und gemessen werden kann“, so Ulrich Petschow. „Der Weltklimarat IPCC etwa thematisiert in seinem jüngsten Bericht Postwachstum und Degrowth erstmals als Ansatzpunkte, um Klimaziele doch noch zu erreichen. Auf europäischer Ebene reden die Europäische Umweltagentur oder der Europäische Forschungsrat über Grenzen der Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch. Die OECD und das Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium sind auf der Suche nach neuen Indikatoren für Wohlstand, um ihre Politik zukunftsgerichtet steuern zu können.“

Mit der Tagung wollen das IÖW und die VÖW von theoretischen Debatten zu konkreten Handlungsoptionen kommen. Die Wirtschaftsforscher*innen schlagen ein praxisnahes Forschungs- und Handlungsprogramm vor, mithilfe dessen für zentrale Handlungsfelder weitreichende Systemwechsel anstoßen werden können. In drei Themensträngen diskutieren Teilnehmende und Referent*innen, wie eine neue Wirtschaftsordnung aussehen kann, wie die Themen Effizienz und Suffizienz strategisch verbunden werden können und auf welche Weise zukunftsfähige Wohlstandsmodelle Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen beantworten können.

„Es ist an der Zeit, dass das Thema Postwachstum mit politischen Ansätzen für Suffizienz und für soziale Innovationen zusammengebracht wird. Nur so können kohärente Strategien für eine Transformation entwickelt werden, die von der Gesellschaft getragen werden“, sagt Just-Transition-Forscherin Helen Sharp vom IÖW. „Dafür ist es zentral, Verteilungsfragen zu thematisieren und sozial gerechte Ansätze zu entwickeln. Hier können neue gesellschaftliche Allianzen wertvolle Beiträge leisten, beispielsweise Bündnisse aus Sozial-, Umwelt- und Entwicklungsverbänden, die umsetzungsfähige und sozial ausgewogene Handlungsvorschläge aushandeln.“


Mehr zum Thema Wachstum im gleichnamigen factory-Magazin, das bereits 2012 erschien – und dann immer wieder in den weiteren Magazinen. Am anschaulichsten vielleicht zu Suffizienz und Gutem Leben für alle im Gender-Magazin und zur Notwendigkeit im Magazin Change – oder in den Online-Themenbereichen.

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