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Ungestaltete Digitalisierung ist Brandbeschleuniger beim Ressourcenverbrauch

Klare Empfehlung des WBGU, des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Die Politik muss die Digitalisierung in den Dienst nachhaltiger Entwicklung stellen. Denn ohne aktive politische Gestaltung wird der digitale Wandel den Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung von Umwelt und Klima weiter beschleunigen, so die Wissenschaftler*innen in ihrem neuen Hauptgutachten.

900 Seiten stark ist das Gutachten, dass die Expertenkommission der Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen erarbeitet hat – diesmal zur Digitalisierung – allein die Zusammenfassung passt nur auf schon 30 Seiten. Heute hat der WBGU das Werk mit dem Titel „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ an die Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek und an die Bundesumweltministerin Svenja Schulze übergeben. Der Titel ist bewusst gewählt: Er bezieht sich auf den 1987 erschienenen Brundtland Report „Unsere gemeinsame Zukunft“, der bis heute weltweit das Nachhaltigkeitsdenken prägt.

In der Beschreibung der "gemeinsamen digitalen Zukunft" machen die Wissenschaftler*innen deutlich, dass Nachhaltigkeitsstrategien und -konzepte im Zeitalter der Digitalisierung grundlegend weiterentwickelt werden müssen. "Denn nur wenn der digitale Wandel und die Transformation zur Nachhaltigkeit synchronisiert werden werde es gelingen, Klima- und Erdsystemschutz sowie soziale Fortschritte menschlicher Entwicklung voranzubringen", so Sprecher Dr. Benno Pilardeux in seiner Pressemitteilung. Der Beirat kommt zu dem Schluss: „Im Großen wirken Digitalisierungsprozesse heute eher als Brandbeschleuniger bei der Übernutzung natürlicher Ressourcen und wachsender sozialer Ungleichheit". Das müsse sich ändern.

Denn ohne aktive politische Gestaltung wird der digitale Wandel den Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung von Umwelt und Klima weiter beschleunigen, so die Gutachter*innen. Daher sei es eine vordringliche politische Aufgabe Bedingungen dafür zu schaffen, die Digitalisierung in den Dienst nachhaltiger Entwicklung zu stellen, so eine der zentralen Botschaften des Berichts.

Kurzfristig geht es darum, die Digitalisierung mit den im Jahr 2015 vereinbarten globalen Nachhaltigkeitszielen (SDGs, Agenda 2030) sowie den Zielen des Pariser Klimaübereinkommens in Einklang zu bringen. Neue Technologien sollten gezielt und umfassend genutzt werden, um Menschen Zugang zu Basisdienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Energie und (Umwelt-)Informationen zu verschaffen und zugleich Umweltzerstörung zu verhindern. Beispiele sind die Förderung der Energiewende durch Einsatz intelligenter Energienetze, die Senkung des Fahrzeugaufkommens in Städten durch geteilte Mobilität, die den Besitz eines PKW überflüssig macht und die Nutzung digitaler Technologien für die Kreislaufwirtschaft.

Zudem müssten bereits jetzt Vorkehrungen getroffen werden, um mit tiefen gesellschaftlichen Umbrüchen umzugehen, die mittelfristig mit der Digitalisierung einhergehen: Beispiele sind der absehbare radikale Strukturwandel auf den Arbeitsmärkten, der Ersatz realweltlicher Erfahrungen in virtuellen Räumen, die vielfältigen Wirkungen von Künstlicher Intelligenz auf Bildung, Wissenschaft, Demokratie oder auch die Herausforderung, die Überwachungspotenziale der neuen Technologien demokratisch einzuhegen. Alle digitalen Veränderungen, so der WBGU in seinem neuen Gutachten, sollten auf das Gemeinwohl und die Steigerung der Lebensqualität der Menschen hin ausgerichtet werden.

Schließlich gehe es auch darum, sich auf langfristig mögliche Umbrüche vorzubereiten. So sind z.B. bei der Mensch-Maschine-Interaktion bereits heute Risiken für die menschliche Integrität erkennbar. Dies betrifft etwa sensible Neurodaten oder Neuroprothesen, bei denen ethische Aspekte bislang unzureichend berücksichtigt werden. Im Zeitalter der Digitalisierung gilt es, unser Verständnis von “menschlicher Entwicklung” neu zu bestimmen.

Politik muss vorausschauen und gestalten

Auch wenn die zukünftige digitale Welt nur schwer abschätzbar sei, sollte Politikgestaltung auf tiefgreifende Veränderungen, wie etwa Umbrüche auf den Arbeitsmärkten oder Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, vorbereitet sein. Dafür müssten Staaten eine starke antizipative Kapazität aufbauen und ein strategisches Bündel von Institutionen, Gesetzen und Maßnahmen schaffen, um die digitalen Kräfte nutzbar zu machen und zugleich einzuhegen. Also eine staatlich regulierte digitale Entwicklung.

Dafür brauche es vorausschauende Mechanismen wie Technologiefolgenabschätzung, aber auch eine Vernetzung von Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsforschung, schlägt das Gremium der Bundesregierung vor. Ein weiterer Baustein sei die Schaffung von Diskursarenen durch die Bundesregierung, in denen sich Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik über Werte, Ziele und Grenzen digitaler Veränderungen austauschen könnten. In solchen öffentlichen Aushandlungsprozessen sollte das Bewusstsein für die neu auftretenden ethischen Fragen geschärft und gesellschaftliche Antworten auf die Herausforderungen des digitalen Wandels gefunden werden. Über einen rein konsultativen Charakter hinaus sollten die Ergebnisse dieser Diskurse Eingang in parlamentarische Verfahren finden. 

Nachhaltigkeit des digitalen Wandels könnte Wettbewerbs- und Standortvorteil für die EU werden

Um im globalen Wettbewerb des bedeutendsten Technologietrends des 21. Jahrhunderts zu bestehen, biete sich für die Europäische Union mit einem eigenen Digitalisierungsmodell die Chance, sich international als nachhaltiger Lebens- und Wirtschaftsraum zu profilieren, formulieren die Autor*innen des Gutachtens. Vor diesem Hintergrund solle sich die Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 dafür einsetzen, eine gemeinsame europäische Vision zu entwickeln und nachhaltige Entwicklung als Leitbild für europäische Digitalisierungspolitiken zu verankern.

Mit der Ausarbeitung einer „EU-Strategie für Nachhaltigkeit im Digitalen Zeitalter“ würde sich zudem die Möglichkeit öffnen, neue Anreize und Standards mit internationaler Strahlkraft zu verankern. Nachhaltigkeit, faire Produktionsbedingungen, Privatheit und Cybersicherheit in der Technikgestaltung und im Betrieb sollten zentrale handlungsleitende Prinzipien eines künftigen europäischen Digitalisierungsmodells werden. Damit könnte die EU zudem eine Pionierrolle für die Weiterentwicklung der Agenda 2030 einnehmen und der globalen digitalen Entwicklung neue Impulse geben. 

UN-Gipfel „Nachhaltigkeit im Digitalen Zeitalter“ anberaumen

Die Gutachter*innen empfehlen, dass Deutschland und die EU sich für einen UN-Gipfel zum Thema „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ im Jahr 2022 einsetzen. Damit könne 30 Jahre nach dem ersten Nachhaltigkeitsgipfel in Rio die Digitale Nachhaltigkeitsagenda 21 beschrieben werden. Zentrales Thema des Gipfels sollte die Verständigung über notwendige Weichenstellungen sein, um eine digital unterstützte, nachhaltige Entwicklung zu erreichen und Risiken des digitalen Wandels zu vermeiden. Ein zentrales Ergebnis könnte eine Charta sein, in der die für nachhaltige Gestaltung des Digitalen Zeitalters grundlegenden Themen benannt und politische Ansatzpunkte identifiziert werden. Dafür hat der WBGU einen Entwurf vorgelegt. Zur Vorbereitung des vorgeschlagenen UN-Gipfels empfiehlt der WBGU die Einsetzung einer „Weltkommission für Nachhaltigkeit im Digitalen Zeitalter“ nach dem Vorbild der „Brundtland-Kommission“.

Einige Beispiele zum ressourcenschonenden Einsatz der Digitalisierung nennt die Deutsche Welle in ihrem Bericht zum Gutachten. Bisher habe die Digitalisierung das Muster des ressourcenfressenden und klimawandelfördernden Wachstums nicht verändert, sagt WBGU-Vorsitzender Dirk Messner im Interview mit ZEIT ONLINE. Er weist darauf hin, dass Regierungen mit einer Besteuerung von Ressourcen und einem CO2-Preis Anreizsysteme für eine nachhaltigen Einsatz der Digitalsierung schaffen können. Gleichzeitig können die virtuellen, vernetzten Räume eine Chance für ein neues Welt- und Weltumweltbewusstsein sein.

Welche Chancen die Digitialisierung für die Nachhaltige Entwicklung hat, zeigt auch das gleichnamige factory-Magazin. Da werden die Chancen einer vernetzten Circular Economy beschrieben, eine ressourcenschonende Produktionspraxis, die digitalgestützte Mobilitätswende, die Förderung digitaler "grüner" Startups, die Gefahren der Rebound-Effekte und die Möglichkeiten zur Energie- und Ressourceneinsparung in der weltweiten Praxis und Politik.

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