Bei der Podiumsdiskussion am 15. Juni in Berlin ging es auch um Pedelecs. Diese und ihre notwendige Förderung kämen in The Big Picture nicht vor. Tatsächlich sieht die Studie des Thinktanks Agora Energiewende eher das große Ganze. Zwar stehe Deutschland für die auch international auf deutsch genannte "Energiewende", doch inzwischen laufen andere Länder dem einstigen Primus längst den Rang ab. Kommt hinzu, dass das Land die eigenen Klimaschutzziele (40 Prozent weniger CO2-Emissionen bis 2020 gegenüber 1990) nicht erreichen wird, wenn nichts tiefgreifendes wie ein schneller, zumindest teilweise massiver Ausstieg aus der Kohleverbrennung passiert oder eine substanzielle Mobilitätswende geschieht. Von den Zielen wie der Einhaltung der Sustainable Development Goals (SDG), den UN-Nachhaltigkeitszielen bis 2030, und den Klimaschutzzielen im Pariser Abkommen von 2015 ganz zu schweigen.
Immerhin steht Deutschland an sechster Stelle, was die globalen Treihausgasemissionen angeht und an vierter Stelle der größten Industrienationen. Wenn das Modell Energiewende im Ursprungsland scheitert oder stockt, ist das kein gutes Modell für die Welt – auch droht gerade ein innovativer Bereich abgehängt zu werden. Denn auch wenn US-Präsident Trump aus "Paris" aussteigen will, sein Außenminister Tillerson hält daran fest, hunderte US-Städte ebenfalls, Bundesstaaten wie Kalifornien verkünden ehrgeizigere Ziele als Deutschland und EU und China steigt aggressiv in den Markt für erneuerbare Energien ein, wie Patrick Graichen, Leiter der Agora Energiewende, im Deutschlandfunk zusammenfasst.
Gerade weil Deutschland sein bisheriges Klimaschutzziel 2020 so kurzfristig nicht mehr erreiche, müssten umso dringender jetzt die Weichen für 2030 gestellt werden, fordert Graichen. Dann will Deutschland seine Treibhausgase um 55 Prozent gegenüber 1990 reduziert haben – und gleichzeitig die Versorgungssicherheit mit Energie wahren und Energie soll sowohl für Verbraucher als auch die Industrie bezahlbar bleiben.
Im Big Picture der Agora werden deswegen nun erstmals konkrete energiepolitische Zielvorgaben für Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit, Erneuerbare Energien und Effizienz für alle drei Energiesektoren – Strom, Wärme, Verkehr – für 2030 vorgeschlagen. Denn die Stromwende ist inzwischen zwar erfolgt, aber bei der Wärme tut sich nichts, obwohl sie der größte Primärenergieverbraucher ist und die Verkehrswende geht derzeit eher in die andere Richtung, denn dort steigen die Emissionen wieder.
Das rund 80-seitige Papier beschreibt die sieben zentralen Energie-Megatrends, die jegliche Energiepolitik beachten muss, definiert ein Zielsystem für 2030 und schlägt zehn konkrete Agenda-Punkte für die weitere Gestaltung der Energiewende vor – so etwa die Empfehlung für ein Energiewenderahmengesetz, mit dem die Energiewende erstmals auf ein umfassendes legislatives Fundament gestellt würde.
Konkret rechnet die Studie vor, was die Energiewende im Jahr 2030 bedeutet: den Anteil Erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch auf 30 Prozent und am Stromverbrauch auf 60 Prozent zu verdoppeln, die Nutzung von Kohle und Erdöl zu halbieren, den Verbrauch von Erdgas um 20 Prozent zu reduzieren und den Energieverbrauch insgesamt um 30 Prozent im Vergleich zu heute zu reduzieren. „Das Jahr 2030 ist eine wichtige Wegmarke, denn bis dahin muss die Energiewende zur Hälfte absolviert sein, will man bis 2050 die im Klimaschutzabkommen von Paris verabredete Dekarbonisierung erreichen“, betont Graichen. „Die gute Nachricht lautet: Die notwendigen Technologien für den Schritt bis 2030 sind alle kostengünstig vorhanden. Die herausfordernde Botschaft ist aber auch: Jetzt geht es nicht mehr um die Integration von ein paar Wind- und Solaranlagen, sondern es steht die umfassende Transformation der Energiesektoren Strom, Wärme, Verkehr an.“
Weil die Biomasse-Strategie (Treibstoff vom Acker), mit der die Bundesregierung ursprünglich Wärme und Verkehr klimafreundlicher machen wollte, nicht aufgegangen ist, sei auch keine Wärme- oder Verkehrswende in Sicht. In Zukunft werden bei Wärme und Verkehr Energieeffizienz und die Nutzung von Wind- und Solarstrom über Elektromobilität und Wärmepumpen im Zentrum stehen – und nach und nach auch strombasierte Heiz- und Kraftstoffe, so Graichen.
Überhaupt die Energieeffizienz. Ohne sie wird ohnehin alles nichts. Bisher sträflich verbrachlässigt, werde sie in der zweiten Phase der Energiewende einen ganz anderen Stellenwert bekommen müssen als bisher. Unter dem Leitprinzip Efficiency First solle jede Planung und Investition bei Strom, Wärme und Verkehr zunächst daraufhin überprüft werden, ob nicht Energieeffizienz die kostengünstigste Lösung ist, schlagen die Agora-Expert*innen vor. „Wenn Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit gelingen sollen, muss Energieeffizienz eine ganz andere Bedeutung bekommen als bisher. Soviel Erneuerbare Energien und Netze, wie wir ohne Effizienz bräuchten, können wir gar nicht bauen“, betont Graichen. Dazu passen die Aussagen aus dem Umweltbundesamt: Soll der Verkehr komplett elektrifiziert werden, muss Deutschland die gesamte bisherige Stromerzeugungs- und -infrastruktur (inklusive fossile) als erneuerbar nochmal verdoppeln.
Illustrierte Karten zeigen im „Big Picture“, wie sich die Stromerzeugung und der Energieverbrauch in den Bundesländern bis 2030 im Vergleich zu 2015 ändern müssen und welche Auswirkungen die Transformation auf dem Land, in der Stadt, für die Industrie und in Braunkohlerevieren haben könnte. „Zu sehen ist darauf, dass wir 2030 noch voll im Wandel stecken: Wir werden neben neuen Wind- und Solaranlagen weiterhin fossile Kraftwerke betreiben, die Versorgungssicherheit herstellen, aber immer seltener laufen. Wir werden 10 bis 12 Millionen Elektroautos haben, vor allem in der Stadt, doch der Verbrennungsmotor wird ebenfalls noch sehr verbreitet sein – vor allem auf dem Land. Die Hälfte der Häuser ist saniert, viele Häuser werden ihre Heizwärme aus hocheffizienten Wärmepumpen und aus Wärmenetzen beziehen – aber ebenso viele werden noch mit Gas oder sogar teilweise noch mit Öl heizen“, sagt Graichen. Dass ein treibhausgasneutrales Deutschland bis 2050 möglich ist, hat das Umweltbundesamt schon vor einigen Jahren in einer Studie gezeigt. Dann sind auch Heizungen weitgehend strombasiert und Strom wird zu Gas gewandelt, das in der bereits vorhandenen guten Gasinfrastruktur Deutschlands gespeichert werden kann (Power-to-Gas).
Weil die Energiewende aufgrund der stark gesunkenen Kosten für Erneuerbare Energien und Batterien inzwischen auch zu einem Wettbewerbsthema zwischen den Volkswirtschaften geworden sei, sollten die Deutschen die Energiewende mit einer Industriepolitik flankieren, die sie von dem rasant wachsenden globalen Markt der Energiewende-Technologien profitieren lässt, lockt Graichen.
Mehr dazu, wie eine schnellere und weitere Energiewende und der soziale Ausstieg aus der Braunkohle in Deutschland gelingen kann, im factory-Magazin Divestment. Warum Energieeffizienz der wichtigste Faktor der Energiewende ist, erklärt Ernst-Ulrich von Weizsäcker im factory-Magazin Sisyphos.