Die neue CO2-Uhr des Mercator-Klimainstituts zeigt unerbittlich an, wie die Zeit zur Einhaltung des Klimaziels von Zwei Grad der maximalen Erwärmung verrinnt. Das erlaubte Kohlenstoff-Budget ist in weniger als 18 Monaten verbraucht, für das 1,5 Grad Szenario ist es sogar weniger als ein Jahr. Kein Wunder, dass sämtliche Stimmen der engagierten Klimawissenschaft darauf hinweisen, dass es ohne einen raschen Kohleausstieg nicht geht – besonders in Deutschland.
Schließlich ist die Bundesrepublik der sechstgrößte Produzent von Kohlendioxidemissionen weltweit. Um das Zwei-Grad-Ziel einzuhalten, dürfte das Land eigentlich nur noch rund vier Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre entlassen. Die Studie Stromsystem 2035+ zeigt, dass der beschleunigte Ausstieg aus der Stromerzeugung durch Kohle ein zentrales Element zur Einhaltung dieses Ziels ist. Denn der Anteil der Treibhausgasemissionen des Stromsektors an den gesamten deutschen Emissionen macht derzeit 37 Prozent aus. Die deutschen Braun- und Steinkohlekraftwerke verursachen aktuell gut 80 Prozent der gesamten CO2-Emissionen des Stromsektors (48 Prozent Braunkohle- sowie 33 Prozent Steinkohleverstromung). Für die Betreiber sind die Kraftwerke die letzten Goldgruben: Die deutschen Braun- und Steinkohlekraftwerke bestehen zu erheblichen Anteilen aus alten, bereits refinanzierten Anlagen mit besonders hohen Emissionswerten, die bis 1990 in Betrieb genommen worden sind. So sind 48 Prozent der Braunkohlekraftwerke und 51 Prozent der in Steinkohlekraftwerken heute schon älter als 25 Jahre.
Um gleichzeitig die klimaschutzpolitischen Erfordernisse umzusetzen, die Übergänge ohne Brüche zu gestalten und die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten, müssen ab 2019 alle alten, mehr als 30 Jahre betrieben Kohlekraftwerke stillgelegt werden, errechneten Öko-Institut und Prognos im Auftrag des WWF. Bis 2035 sollte die Stromerzeugung aus Braun- und Steinkohle komplett durch klimafreundlichere Erzeugungskapazitäten ersetzt sein. Das können der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere Wind- und Solaranlagen, sowie für einen Übergangszeitraum Erdgaskraftwerke abdecken.
Ab dem 21. Betriebsjahr dürften die Kohlekraftwerke jährlich nicht mehr als maximal 3,35 Tonnen CO2 je Kilowatt Kraftwerksleistung emittieren dürfen, schlagen die Wissenschaftler vor. Möglich wäre das durch verändertes Ordnungsrecht, über einen zusätzlichen Preis auf CO2-Emissionen oder vertragliche mit den Kraftwerksbetreibern wie seinerzeit beim Atomausstieg.
Zugleich braucht es aus Sicht der Studienersteller einen deutlich verstärkten Ausbau der erneuerbare Energien und Investitionen in den Strukturwandel insbesondere für die Regionen, in denen heute Kohlekraftwerke und Braunkohletagebaue betrieben werden. Nur so könne die Anpassung an eine klimafreundliche Stromproduktion verträglich gestaltet werden.
Exporte verringern, Braunkohleförderung stoppen
Wichtig für den Kohleausstieg, so die Expertinnen und Experten, sei der Abbau der hohen Exportüberschüsse Deutschlands aus der CO2-intensiven Stromerzeugung. Diese waren die seit der Jahrtausendwende massiv angestiegen, da die Betriebs- und Brennstoffkosten für die Stromerzeugung aus Kohle besonders niedrig waren. Im Jahr 2015 erreichten die Stromexporte einen Höchstwert von 52 Terawattstunden (TWh), was knapp neun Prozent des Bruttoinlandsverbrauchs an Strom entspricht.
Zudem ergeben die Analysen, dass die Braunkohleförderung deutlich verringert werden kann, da künftig deutlich weniger Mengen benötigt würden. Ausstehende Genehmigungsverfahren für die Erweiterung von Tagebauen sollten gestoppt werden, bis der Ausstieg aus der Kohle als Energielieferant politisch geklärt ist. Der der Rückbau und die Renaturierung von Tagebauflächen solle finanziell durch die Verursacher, also die Energiewirtschaft, abgesichert werden.
Bleibt es beim bisherigen Klimaschutzplan der Bundesregierung, der keine konkreten Ausstiegsziele für die Kohle vorsieht, wäre das emittierbare Kohlenstoffbudget schon 2028 verbraucht – um das Klimaziel einzuhalten, müssten alle laufenden fossilen Kraftwerke dann auf einmal abgeschaltet werden.
Politik mit vielen Möglichkeiten
In einer aktuellen Studie des Umweltbundesamtes empfiehlt die Behörde, bis 2030 über die Hälfte aller Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen. Sie stellt verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl: entweder alle Kohlekraftwerke abzuschalten, die älter als 40 Jahre sind, oder zuerst alle Braunkohlekraftwerke stillzulegen. Letzteres wäre für das UBA der robustere Weg. Noch günstiger wäre das dritte Szenario der drastischen Erhöhung der Brennstoffsteuer und damit Verteuerung des CO2-Preises um zehn Euro pro Tonne. Option Vier wäre eine Begrenzung der Volllaststunden der Kraftwerke bis 2030.
Die Politik möchte sich mit dem empfohlenen Kohleausstieg gar nicht befassen. So lehnte Energieminister Sigmar Gabriel (SPD) bei einem Besuch im Braunkohlekraftwerk Niederaußem in Bergheim bei Köln jegliche Szenarien ab, wie klimaretter berichtet. Dort sind einige Blöcke seit über 50 Jahren in Betrieb. Vor 2030 will Gabriel erst gar nicht entscheiden, ob auf Braunkohlestrom ganz oder teilweise verzichtet werden kann. Die brandenburgische Landesregierung aus SPD und Linke verweigert sich ebenfalls der Auslaufdebatte – obwohl der Ausstieg bis 2035 vollzogen sein muss. Doch im Mai 2017 sind zunächst Landtagswahlen im Energieland NRW und im September Bundestagswahlen. Kaum vorstellbar, dass Parteien Transformationsszenarien in ihrem Wahlkampf thematisieren, wenn sie die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Druck der Energiekonzerne treiben. Wahrscheinlich wird es dann doch wieder eine Art Klimakanzlerin entscheiden.
Mehr zum Thema Ausstieg aus fossilen Energien im factory-Magazin Divestment. Ein Teil der Beiträge ist online zu lesen, angenehmer und schöner liest sich jedoch das PDF-Magazin auf Tablets oder Bildschirmen.