Gewachsene Industrieregionen stehen weltweit seit Jahrzehnten vor großen Herausforderungen. Nicht nur, dass Grund-, Schwerindustrie und Energieindustrie verändert haben, geschrumpft sind oder verlagert wurden. Auch die Infrastrukturen von derart für die Industrie gestalteter Umwelt passen nicht mehr für eine zukunftsfähige Entwicklung. Gleichzeitig leiden die Regionen unter Abwanderung, Arbeitslosigkeit und Segregation.
Tiefgreifende Strukturveränderungen meistern zu müssen, gehört also zur Zukunftssicherung von Industrieregionen. Wie die nächsten Schritte des Wandels gelingen können, zeigt die Studie „Transformation zur ‚Grünsten Industrieregion der Welt‘ – aufgezeigt für die Metropole Ruhr“. Sie entstand im Auftrag des Regionalverband Ruhr durch das Wuppertal Institut.
Aus einer ganzheitlichen Perspektive zeigt die Studie systematisch auf, worauf es bei dieser Transformation für Industrieregionen besonders ankommt, um die Wirtschaftskraft der Region zu stärken, den Anforderungen des Umwelt- und Klimaschutzes gerecht zu werden und die Lebensqualität der Menschen zu steigern. Wichtig dabei: „Eine ‚grüne‘ Transformation zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit ist die zwingende Voraussetzung für eine ökonomisch, ökologisch und sozial tragfähige Zukunft von Industrieregionen“, betont Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts. Das Institut hatte schon im März eine Studie zur klimaneutralen Industrieregion Mannheim vorgelegt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler definieren entlang von sieben zentralen Handlungsfeldern und 35 Indikatoren, was eine „grüne Industrieregion“ ausmacht und welche Zielsetzungen dafür wichtig sind – insbesondere hinsichtlich des Zeithorizonts 2035 , aber auch darüber hinaus. Dazu zählen etwa die Reduzierung der Treibhausgas-, Stickstoffdioxid- und Feinstaubemissionen, die ökologische Güte der Gewässer sowie der Anteil der erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch. Industrieregionen lassen sich mithilfe des Indikatorensets in ihrer Entwicklung von einer „konventionellen, grauen Industrieregion“ hin zu einer „modernen, grünen Industrieregion“ einordnen und bewerten.
Die Stärken der Region
Am Beispiel von sieben zentralen Indikatoren (ein Indikator je Handlungsfeld) untersucht das Autorenteam, welche Potenziale die Metropole Ruhr hat, eine weltweite Vorreiterrolle bei der Transformation zu einer grünen Industrieregion einzunehmen. In zwei der analysierten Bereiche attestieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem Ruhrgebiet ein sehr hohes Vorreiterpotenzial. Zum einen seien die Voraussetzungen in der Umweltwirtschaft besonders günstig. Hier ist die Zahl der Beschäftigten zwischen 2010 und 2019 bereits um 12,4 Prozent gestiegen. Einen Zuwachs um 35 Prozent bis zum Jahr 2035 halten die Forschenden des Wuppertal Instituts für möglich. Hierfür könnten etwa dynamische Entwicklungen bei umweltwirtschaftlich relevanten Technologien und Dienstleistungen, beitragen und nicht zuletzt die Expertisen aus der dichten Hochschul- und Forschungslandschaft und der agilen Start-up-Szene des Ruhrgebiets genutzt werden.
Zum anderen bescheinigt die Studie der Metropole Ruhr sehr gute Ausgangsbedingungen bei der Entwicklung der Grün- und Erholungsflächen. Allein im Zeitraum von 2017 bis 2019 ist die Größe der Grün- und Parkanlagen im Ruhrgebiet von 14.829 auf 15.877 Hektar gestiegen, was einem Zuwachs von gut sieben Prozent entspricht. Revierparks, Industriekultur und Industrienatur zählen heute zu den anerkannten Markenzeichen der Metropole Ruhr.
Zu allen sieben Indikatoren beschreibt das Wuppertal Institut ausgewählte Schlüsselmaßnahmen, wie die Transformationsprozesse in der Metropole Ruhr zu einer „grünen Industrieregion“ ambitioniert und beschleunigt umgesetzt werden kann – beispielsweise durch: die Entwicklung einer klimaneutralen, auf ‚grünem‘ Wasserstoff basierenden Stahlindustrie, „Balkonkraftwerke“ in Form von Photovoltaik-Anlagen, ein 1.000 Kilometer langes und dichtes regionales Radschnellwegenetz, die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft und die Wiederherstellung der Durchgängigkeit der Fließgewässer für Fische und Gewässerorganismen. Zu allen Vorschlägen hält die Studie auch fortschrittliche Beispiele aus der Region oder von anderen Vorbildern bereit.
Vorbildlich, wenn konsequent und schnell gehandelt wird
Das Ruhrgebiet steht wie alle Industrieregionen noch vor enormen Herausforderungen, so das Fazit der Studie. „Die Region ist in einigen Bereichen schon sehr weit gekommen, in anderen besteht noch Nachholbedarf“, resümiert Manfred Fischedick und ergänzt: „Diesen Pfad jetzt konsequent und beschleunigt aufzugreifen, bietet eine große Chance. Wenn die Metropole Ruhr den Transformationsprozess ambitioniert und zielorientiert umsetzt, kann sie für viele industriell geprägte Ballungsräume weltweit zu einer beispielgebenden Modellregion werden – mit einer klimaneutralen Stahlindustrie, umfangreich renaturierten Gewässern sowie einer starken Umweltwirtschaft.“
„Dieser Transformationsprozess ist nur als Gemeinschaftswerk aller möglich“, betonen die beiden Projektleitenden Miriam Müller und Prof. Dr.-Ing. Oscar Reutter aus dem Forschungsbereich Mobilität und Verkehrspolitik am Wuppertal Institut. Das Autorenteam sieht dabei fünf Charakteristika und Mentalitäten der Menschen der Metropole Ruhr, die wesentlich zum Gelingen beitragen können: Weitblick, Transformationserfahrung, eine Anpack-Mentalität, Offenheit für Neues und solidarischer Zusammenhalt. Diese Eigenschaften seien wichtige Grundpfeiler für eine zukunftsfähige Gesellschaft in der Metropole Ruhr – und für die erfolgreiche Gestaltung nachhaltigkeitsorientierter Transformationsprozesse.
Mehr zum Wandel und was dazu nötig ist im factory-Magazin Change. Wie Mobilität und Circular Economy dazu beitragen können, lesen Sie in den gleichnamigen Magazinen oder den entsprechenden Themenwelten.