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  • Menschen entwickeln in einer Gruppe um einen Tisch Ideen für Zukunftstechnologien
    Mit Storytelling, Kreativmethoden und Prototyping artikulieren im Vorgehensmodell Shaping Future Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche und Anliegen an technische Zukunftslösungen.

Zukunftstechnologie mit Bürgerbeteiligung entwickeln

Zukunft ist das, was Menschen daraus machen. Bisher galt Zukunftstechnologie als das, was die Industrie den Menschen als solche anbot. Im Fraunhofer-Projekt "Shaping Future" durften Bürgerinnen und Bürger erstmals selbst ihre Ansprüche an zukünftige Technologien im Jahr 2053 beschreiben und Prototypen entwickeln: Sie wünschen sich Technologien, die ihre geistige und körperliche Leistungskraft verbessern, die Privatsphäre schützen und Emotionen speichern und transportieren können.

Technologie gilt als Heilsbringer für die Probleme der Welt. Selbst der Klimawandel soll mit Technologie korrigiert werden können - jahrelang waren Kampagnen der US-Klimaskeptiker darauf angelegt, mögliche verbindliche Politikmaßnahmen zu verhindern, denn mit in der Zukunft entwickelten Technologien würde man das Problem schon lösen können. Und es stimmt ja zum Teil auch, wobei Photovoltaikanlagen und Windräder nun gerade eher vorvoriges Jahrhundert sind und nur technologisch weiterentwickelt worden sind. Dagegen ist die Carbon-Capture-and-Storage-Technologie wegen möglicher Kohlendioxid-Lecks unsicher die aktuelle Version des Versteinerns von Kohlendioxid ist sehr energie- und wasserintensiv.

Um derartige helfende Visionen von Technologie geht es aber nur im großen Maßstab. Zukunftstechnik sieht nicht gleich nach Raumschiff, Weltrettung oder klimaneutralen Städten aus. Sie ist oft eher eine Vorstellung von morgigem Alltag, bzw. einer Lösung für ein heutiges Problem – mit der Entwickler in Zukunft ein Geschäftsmodell aufbauen können. Und während im großen wie im kleinen Maßstab Innovationen eher von oben nach unten entwickelt werden, böte sich eigentlich an, die Menschen einmal selbst nach ihren Technologievorstellungen zu fragen. Schließlich machen Unternehmen damit die besten Erfahrungen, wenn sie ihre Mitarbeiter innovieren lassen.

Im Projekt Shaping Future hat das Center for Responsible Research and Innovation CeRRI am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO ein Vorgehensmodell entwickelt, das genau das ermöglicht: Menschen können ihre Wünsche und Anliegen an technische Zukunftslösungen artikulieren, Technologiebedarfe beschreiben und diese mit Wissenschaftlern austauschen. Die Methoden dafür: Storytelling, Kreativmethoden und Prototyping.

»Es geht dabei nicht nur um Teilhabe. Wer neue Technologien entwickelt, muss die Menschen miteinbeziehen. Sonst besteht die Gefahr, dass Innovationen an den Bedarfen der Nutzer vorbei gehen«, sagt Marie Heidingsfelder. Sie ist am Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation CeRRI in Berlin verantwortlich für das Forschungsprojekt: »Dass die Methode funktioniert, zeigt der Erfolg der ersten Workshops«. Über 100 Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichsten Alters und beruflichen Hintergrunds waren gefragt, sich Gedanken über Technologien für das Jahr 2053 zu machen. In vier Workshops setzten sie sich mit den Themen Beziehungen zu Maschinen, Gesundheit, Arbeit und nachhaltige Mobilität auseinander. »Die Ergebnisse waren sehr vielfältig. Aber wir konnten auch übergreifende Themen identifizieren«, schildert Heidingsfelder.

Big Mother statt Big Brother

Ein wichtiges übergreifendes Ergebnis war, dass sich viele der Teilehmenden möglichst unsichtbare, weiche Technologien wünschten, die sich auch gut am Körper tragen lassen. Eine weitere Rolle spielten Raummodelle, die es flexibel erlauben, sich je nach Bedarf individuell zurückzuziehen oder mit anderen Menschen zu interagieren. Eine Idee waren beispielsweise Schutzkapseln für öffentliche Verkehrsmittel, die in Bussen oder Straßenbahnen angebracht sind, und die man sich flexibel über Kopf und Rumpf ziehen kann, sobald man ungestört für sich sein will. Gefragt waren auch Technologien, die helfen, die eigene geistige und körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern. »Vor dem Hintergrund einer immer komplexer werdenden Welt wünschen sich viele Menschen eine Art Big Mother, die einem hilft, Entscheidungen zu treffen und besser mit Stress oder körperlichen Anstrengungen umzugehen«, berichtet Heidingsfelder. Schließlich bestand der Wunsch, dass Maschinen menschliche Emotionen als eine Art Dolmetscher besser an andere Menschen weitergeben sollten. Zum Beispiel in Form von übertragbaren Erinnerungsspeichern, die es auch anderen Menschen ermöglichen, selbst erlebte Ereignisse emotional nachzuempfinden. Beim Thema Gesundheit war wenig von Ärzten und Krankenhäusern die Rede. Die Menschen wollten vielmehr Technologien, die sie befähigen, sich selbst zu diagnostizieren und zu heilen. »Das Krankenhaus der Zukunft stellten sich die Teilnehmer unseres Workshops beispielsweise als Drive-In-Variante vor«, erzählt Heidingsfelder.

Prototypen zeigen Funktion und Interfaces für Ideen

Um sich in das Jahr 2053 hineinversetzen zu können, inspirierte das Projektteam die Teilnehmenden mit zukunftsweisenenden Bildern, Produkten und Forschungsvorhaben – zum Beispiel aus Filmen, künstlerischen Entwürfen oder Einblicken in Forschungslabors. Mit Hilfe von Kreativitätsmethoden, Storytelling und Techniken aus der Designforschung entwickelten die Bürger konkrete Lösungen für Szenarien im Jahr 2053 – zum Beispiel für Krankheitsfälle im Workshop Gesundheit. Im großen Materiallager des CeRRI bastelte jeder Teilnehmer ein erstes prototypisches Objekt seiner favorisierten Idee, um Funktion und Bedienoberfläche zu veranschaulichen.

Im einzelnen entwickelten die Bürgerinnen und Bürger mit den Fraunhofer-Experten folgende Technologien für das Jahr 2053:

(1) Mobility Cocoon: Individuell ausprägbare Transportkapseln, die untereinander konfigurierbar sind und eine Tür-zu-Tür-Lösung ermöglichen.

(2) Modulares Enhancement Set: Modulares Exoskelett, das Menschen in Alltagssituationen unterstützt, wenn besondere, körperlich anstrengende Herausforderungen bewältigt werden müssen.

(3) Muscle to Go: Ein Gel, das die Rekonstruktion des eigenen Körpers nach Unfällen, schweren Krankheiten oder Tumoren ermöglicht. Denkbar ist auch der Einsatz im Bereich Enhancement, beispielsweise der kosmetischen Chirurgie.

(4) Soziale Firewall: Lernfähige Technologie, die eine Fokussierung auf »wichtige« Dinge ermöglicht. 

(5) Diagnose-Behandlungs-Tool: Körpernahe Technologie, die Krankheiten erkennt und passende Ärzte, Therapien und Medikationen empfiehlt. 

(6) Smart-Buddy: Lernendes KI-System, das je nach Stimmung priorisierte Handlungsempfehlungen gibt und Kontakte im Umfeld nach individuellen Interessen filtert und anbahnt. 

(7) Mentor-Earable: Sensorbasierte In-Ear-Variante der sozialen Firewall.

(8) Emo-Lens: Kontaktlinse, die anzeigt, in welcher emotionalen Verfassung das Gegenüber ist.


Mehr zu Technologien, Szenarien und Innovationen der Zukunft im factory-Magazin Vor-Sicht, das kostenlos als PDF-Magazin zur Verfügung steht – oder auszugsweise online mit einigen Beiträgen.

Quelle und Bild: Fraunhofer IAO




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