Eine mitgestaltende Gesellschaft ist entscheidend für die Bewältigung der sich beschleunigenden Mehrfachkrisen. Wächst jedoch die so genannte soziale Ungleichheit, die eher eine der Einkommen und Vermögen ist, steigt auch das Risiko für die Demokratie.
Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Multiple Krisen verschärfen die Ungleichheit, umgekehrt führt mehr Ungleichheit zur Verschlechterung der Krisenbewältigung. Sowohl der Weltklimarat in seiner “letzten Warnung” als auch der Club of Rome und viele andere wissenschaftliche Organisationen plädieren nicht ohne Grund für mehr Gleichheit. Und obwohl gut gemachte Klimaschutzpolitik auch sozial erfolgreich ist, sieht es mit dem versprochenen Klimageld – einer gerechten Rückverteilung wenigstens eines Teils der CO2-Preiseinnahmen für Ärmere düster aus.
Der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung benennt ebenfalls die wachsende Armut als Risiko für die Demokratie. Schließlich sind die Einkommen in Deutschland heute sehr ungleich verteilt, vergleicht man die Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre, so das WSI in einer Pressemitteilung.
Einkommensungleichheit auf Höchststand
Laut dem neuen Verteilungsbericht gibt es zudem es Indizien dafür, dass die Einkommensungleichheit während der Coronajahre erneut gestiegen ist und 2022 fast auf diesem Höchststand verharrte.
Auch die Armutsquote liege mit 16,7 Prozent 2022 spürbar höher als vor Beginn der Pandemie, gegenüber 2021 sei sie geringfügig gesunken. Insbesondere dauerhafte Armut über mindestens fünf Jahre in Folge habe die gesellschaftliche Teilhabe schon vor der jüngsten Teuerungswelle stark eingeschränkt, so das WSI.
Dauerhaft Arme müssen etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie neue Kleidung oder Schuhe verzichten, sie können seltener angemessen heizen. Und sie machen sich zudem deutlich häufiger Sorgen um ihre Gesundheit und sind mit ihrem Leben unzufriedener.
Ungleichheit führt zur Geringschätzung
Auch das Gefühl, anerkannt und wertgeschätzt zu werden und das Vertrauen in demokratische und staatliche Institutionen hängen stark mit dem Einkommen zusammen.
Arme empfinden weitaus häufiger als Menschen mit mehr Geld, „dass andere auf mich herabsehen“, wobei das Problem unter Menschen in dauerhafter Armut noch weitaus ausgeprägter ist als bei temporärer Armut:
Fast jede*r Vierte unter den dauerhaft Armen sagt, von anderen geringgeschätzt zu werden. Mit materiellen Einschränkungen und dem Gefühl geringer Anerkennung geht bei vielen Betroffenen eine erhebliche Distanz zu zentralen staatlichen und politischen Institutionen einher:
Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politiker*innen. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.
Vertrauen in politische Lösungen sinkt
„Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie“, ordnen die Studienautor*innen Dr. Jan Brülle und Dr. Dorothee Spannagel ihre Befunde ein.
„Wir sehen in Befragungen, dass Menschen mit niedrigen Einkommen von weiter wachsenden finanziellen Belastungen berichten – das geht bis in diesen Sommer hinein. Der Verteilungsbericht macht deutlich, welche Folgen das haben kann“, ergänzt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI.
„Gleichzeitig reichen Sorgen über die soziale Ungleichheit weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus: Für 44 Prozent der Erwerbspersonen, die wir im Juli befragt haben, war das ein großes Thema. Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut und Ungleichheit ist ein wesentlicher Ansatz, um die Gesellschaft zusammen- und funktionsfähig zu halten, gerade in Zeiten großer Veränderungen und der Herausforderung durch Populisten.“
Im Verteilungsbericht werten die WSI-Fachleute Brülle und Spannagel die aktuellsten vorliegenden Daten aus zwei repräsentativen Befragungen aus: Erstens aus dem Mikrozensus, für den jährlich etwa 800.000 Personen befragt werden. Die neueste Befragungswelle liefert – noch vorläufige – Daten für 2022. Zweitens aus dem sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das rund 15.000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis 2021 reicht.
Beteiligung Voraussetzung für Krisenbewältigung
"Das Auseinanderklaffen der Lebensrealitäten von Armen und Reichen ist eine schwere Hypothek für unsere Gesellschaft. Dies gilt umso mehr noch in einer Situation, in der Deutschland vor seiner sicher größten Herausforderung seit langem steht – der Bewältigung der Klimakatastrophe", heißt es im Fazit des Berichts.
Um den aktuellen, wie auch den zukünftigen politischen Herausforderungen gut begegnen zu können, sei das Land mehr denn je auf ein funktionierendes demokratisches Miteinander und ein solides Vertrauen in politische Institutionen angewiesen. Das aber setze voraus, dass alle Bevölkerungsgruppen, Arme wie Reiche, voll an der Gesellschaft teilhaben könnten und die Lasten der Krisen gerecht verteilt würden.
Grundsicherung, höhere Löhne, stärkere Beteiligung Vermögender
Die Bundesregierung habe zwar versucht, den Armen mit insgesamt drei Entlastungspakete zu helfen, so die Autor*innen. Diese Maßnahmen hätten auch gewirkt und Haushalte mit niedrigen Einkommen nachweislich entlastet. Aber sie wären eben nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein gewesen und hätten an den strukturellen Ursachen der wachsenden Ungleichheiten nichts geändert.
Um gegenzusteuern, heben sie mehrere Maßnahmen hervor:
- Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau:
Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen nach Analyse der Verteilungsexpert*innen so weit angehoben werden, dass sie Einkommensarmut tatsächlich verhindern. Das sei beim Einstieg ins Bürgergeld nicht passiert. Die von der Bundesregierung angekündigte Kindergrundsicherung setze zwar „ein positives Signal, wenn sie tatsächlich zu einer einfacheren Inanspruchnahme der Leistungen für Familien mit niedrigen Haushaltseinkommen führt. Inwiefern sie aber tatsächlich zur Reduzierung von Armut beitragen kann, hängt auch hier davon ab, ob die Höhe der Leistungen auf ein armutsfestes Niveau angepasst wird.“
- Bessere Löhne durch höheren Mindestlohn, Stärkung der Tarifbindung und Qualifizierung:
Um Armut trotz Arbeit zu reduzieren, empfehlen Brülle und Spannagel einen Mix aus höherer Entlohnung und einer besseren Erwerbsbeteiligung, gerade von Menschen mit geringen formalen Qualifikationen. Dazu zählen sie eine zügige stärkere Erhöhung des Mindestlohns als die 41 Cent, die die Arbeitgeber in der Mindestlohnkommission für den Jahresbeginn 2024 durchgesetzt haben. Als weiteren wichtigen Ansatz gegen Niedriglöhne nennen sie eine Stärkung der Tarifbindung. Komplementär plädieren sie für deutlich mehr „einzelfallorientierte Weiterqualifikationsmaßnahmen“ und einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung.
- Reiche und Superreiche stärker an Finanzierung des Gemeinwohls beteiligen:
Seit Mitte der 1990er Jahre wurden reiche Haushalte systematisch steuerlich entlastet, analysieren die Forschenden. „Zuletzt war es die Reform der Erbschaftssteuer im Jahr 2016, die es zahlreichen Superreichen ermöglicht, erhebliche Betriebsvermögen zu vererben, ohne dass darauf nennenswert Steuern entfallen.“ Die Lasten, die sich aus den aktuellen Krisen ergeben, müssten aber auch von den „starken Schultern“ mitgetragen werden, und das insbesondere über eine deutlich stärkere steuerliche Beteiligung.
Als Ansätze nennen Brülle und Spannagel, den Spitzensteuersatz wieder anzuheben, eine progressive Vermögenssteuer wiedereinzuführen und die Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer zu schließen. Dabei müsse es bei der Vermögens- wie auch der Erbschaftssteuer hohe Steuerfreibeträge geben, betonen die Studienautor*innen. „Es geht nicht darum, die Steuern für die Mitte der Gesellschaft zu erhöhen; es sind die Reichen und Reichsten dieser Gesellschaft, die einen größeren Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten müssen.“
Solche Maßnahmen „erhöhen die Legitimitätsbasis unserer Demokratie, indem sie die Lasten der Krisen gerechter verteilen – ein entscheidender Baustein dafür, das Vertrauen in unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wieder zu stärken.“
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