Die Europawahlen könnten 2024 zu einem Stillstand oder sogar Rückschritt für den Klima- und Ressourcenschutz führen. Trotz häufiger werdender klimawandelbedingter Extremwetterereignisse und Schäden und eines nahezu ungebremsten Ressourcenverbrauchs drohen die Themen Klima- und Naturschutz sowie soziale Gerechtigkeit im neu zu wählenden EU-Parlament zurückgedrängt zu werden. Zumindest, wenn man den Umfragen glaubt.
Waren die EU-Wahlen 2019 mit den vorherigen Protesten der Fridays-for-future-Bewegung noch der Start für den European Green Deal mit seiner Idee von einer stärker klima-freundlichen und gerechteren Wirtschaft, mit Circular Economy, Lieferkettengesetz und Nature Restauration Law, könnte dem Green Deal nach den Wahlen 2024 die Luft aus den bereits schlappen Reifen gelassen werden.
Wie das aussehen könnte, deutete sich mit den Zugeständnissen nach den Bauernprotesten des Winters 2023/2024 bereits an: weniger ökologische Auflagen für die intensive Landwirtschaft, weniger Klima- und Ressourcenschutz. Gleiches gilt für CO2-Grenzen im Verkehr, die Ausnahme der Finanzwirtschaft von der Verantwortung für die Lieferkette und den sozialen Ausgleich. Ohnehin sind die Nachhaltigkeitserrungenschaften im Ringen zwischen konservativ dominiertem EU-Parlament, EU-Kommission und dem Rat umkämpfte, im Beschluss stark abgeschwächte Kompromisse.
Kleiner Tipp nebenbei: Wer gut und witzig unterhalten mehr über die Funktionsweise der EU-Politik erfahren möchte, dem/der sei die Serie "Parlament" in der ARD-Mediathek empfohlen. Bitte aber unbedingt in der mehrsprachigen Originalversion. Vorweg: Die Institution EU gewinnt – in der mittleren Ebene. Die Serie ist trotz aller humoriger Absurdität ein Plädoyer für die EU.
Die Institution EU für Umwelt und Gerechtigkeit
Dass nun Klima- und Ressourcenschutz ebenso wie Gerechtigkeitsthemen national wie europaweit unter Druck geraten, liegt zum großen Teil an verbreiteten Vorstellungen von Wohlstand und Freiheit. Und daran, dass in der so genannten Polykrise langfristige Krisenentwicklungen wie Klimawandel und Artensterben als weniger bedrohlich wahrgenommen werden, als kurzfristige. Das zeigt zumindest eine aktuelle Untersuchung an der Universität München zur "Konkurrenz der Krisen".
Setzen sich bei den Wahlen dementsprechend konservativ, nationalistische, anti-ökologische und anti-soziale Kräfte auf EU-Ebene durch, dürfte ein ohnehin verzögerter Green Deal ausfallen – allerdings eine stattdessen populistisch versprochene und von den entsprechenden Wähler*innen erhoffte “Rückkehr zur Normalität” ebenfalls. Einkommensverluste sind mit ungezügeltem Klimawandel vorprogrammiert.
"Wir stellen fest, dass bei vielen wichtigen Themen im Europawahlkampf nicht um zukunftsweisende politische Lösungen gerungen wird. Stattdessen geht es darum, was wie schnell zurückgedreht werden soll“, warnte Heike Vesper, Vorständin des WWF Deutschland.
Bis zuletzt waren wegweisende EU-Gesetze wie das Nature Restauration Law, das EU-Lieferkettengesetz und die EU-Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten stark unter Beschuss geraten. Nach den Europawahlen drohe ein Rechtsruck im Parlament und damit weitere drastische Rückschritte im Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, so der WWF.
Weil wir also mindestens mehr Green Deal brauchen als weniger, sollte man in jedem Fall wählen gehen und sein Kreuzchen bei der Transformation machen.
Entschieden mitentscheiden
Wer noch nicht weiß, wen er dazu ins EU-Parlament wählen soll, kann auf zahlreiche so genannte Wahlentscheidungshilfen zurückgreifen. Diese haben meist von weitgehend unabhängigen Stellen die Positionen von zur EU-Wahl zugelassenen Parteien mit verallgemeinerten Fragen überprüft.
Dazu schätzt man online als Wähler*in seine Ansichten zur EU-Politik anhand einer Liste von Fragen ein und erhält zum Abschluss ein Ranking der Übereinstimmung mit den Parteipositionen. Häufig lassen sich zuvor einzelne Punkte stärker gewichten.
Wahl-O-Mat
Als erste Wahl und meist genutzte Wahlhilfe gilt der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für Politische Bildung. Nicht immer sind die gestellten Fragen ganz eindeutig oder entschieden zu beantworten, aber bei Klima-, Umweltschutz und Gerechtigkeit sollte das keine Schwierigkeit sein.
Schwieriger ist die Einschätzung, ob z. B. die EU eigene Steuern erheben soll. Das könnte sinnvoll sein, beispielsweise bei Steuern für Ressourcenentnahme oder CO2-Emissionen, aber das ließe sich auch über Verordnungen für die Länder regeln. Jedenfalls hat man dazu bisher in Deutschland kaum etwas gehört oder gelesen – es ist also schwer zu beantworten.
Sicher ließe sich grundsätzlich zu den Fragen auch eine Künstliche Intelligenz zu Hilfe nehmen, die man mit entsprechenden Politikvorschlägen "prompt". Wahl-O-Mat und KI wurden allerdings von konservativen Politiker*innen und Medien gleich in Zweifel gezogen, als im Falle der Beantwortung mit Hilfe von ChatGPT der Wahl-O-Mat tatsächlich eher "linke" Parteien empfahl.
Science-O-Mat
Eine besser erläuterte und eher auf Klima- Naturschutz und gerechten Wandel ausgerichtete Lösung ist der seit 2017 von den Scientists for Future (S4F) betreute Science-O-Mat. Er richtet 2024 erstmals seine Aufmerksamkeit zu Klimawandel, Nachhaltigkeit und Zukunftssicherung auch auf die Europawahlen.
Dort kann man dezidierten Positionen zur Senkung der Treibhausgasemissionen, Klimaschäden-Ausgleichsfonds, ökologischer Landwirtschaft, Biodiversitätsschutz etc. zu-, neutral oder nicht zustimmen und erhält abschließend entsprechende Übereinstimmungen und Positionen von Parteien.
WahlSwiper
Bekannt und viel genutzt ist der WahlSwiper. Er bietet wie eine Dating-App nur Ja und Nein oder das Überspringen als Antwortmöglichkeit zu verschiedenen Fragen, die denen des Wahl-O-Mat ähneln, einige aber auch mit Klima- und Gerechtigkeitsfokus. Er entstand in der Zusammenarbeit mehrerer europäischer Universitäten.
Allerdings ist gleich seine erste Frage nach dem Abbau von Agrarsubventionen zugunsten anderer Bereiche nicht einfach so pauschal zu beantworten, da man nicht abschätzen kann, für welche, warum und in welchem Umfang oder ob es nicht besser wäre, sie verstärkt zu ökologischen Agrarleistungen umzubauen. Letzteres eine Forderung ökologischer Verbände. Und so geht es einem häufiger beim Swiper.
Klimawahlcheck.eu
Der Klimawahlcheck.eu von Klima-Allianz Deutschland, NABU, Protect the Planet und dem Deutschen Naturschutzring konzentriert sich wiederum auf die Klimaschutzpositionierung der Parteien in ihren Wahlprogrammen, die die Verbände bewertet haben.
Dazu entwickelten sie einen Fragenkatalog zu fünf Themenbereichen wie „Energie”, „Naturschutz und Artenvielfalt” oder „Wirtschaft und Soziales”, der einen Großteil der klima- und umweltpolitischen Debatte abdeckt. Diese Fragen basieren auf Forderungen, die einen breiten Konsens der deutschen Klima- und Naturschutzorganisationen widerspiegeln sollen, heißt es.
Sozial-O-Mat
Mit dem Sozial-O-Mat der Diakonie Deutschland erhält man eine gute Ergänzung und einen "sozialen Ausgleich" zu den oft noch zu wenig gerechtigkeitsfokussierten anderen Tools.
Der Online-Check deckt die fünf Bereiche "Sozialpolitik & Armutsbekämpfung", Flucht & Migration, Demokratie, Klima und "Leben im sozialen Umfeld" ab. Übersicht und Bearbeitung fallen leicht, da man den Thesen auch fünfstufig von "voll und ganz" bis "überhaupt nicht" zugestimmt kann.
Agrar-O-Mat
Daneben ist sicher auch noch der Agrar-O-Mat von der Zeitschrift Agrarheute interessant. Hier stehen Landwirtschaftsthemen und die Forderungen zu Vorschriften, Bürokratie, Tierhaltung, Gentechnik, CO2-Speicherung und Co. im Fokus.
Eine einigermaßen sozial und ökologisch gerechte Vorstellung führt aber auch hier zu einer Übereinstimmung mit den Programmen eher "linker" Parteien – mit oder ohne KI.
Europawahl Bilanz Scoreboard
Eine Übersicht über das bisherige Abstimmungsverhalten bei Klima-, Natur- und Umweltschutzthemen liefert ein interaktives “Europawahl Bilanz Legislatur Scoreboard” des BUND.
Das lässt sich nach Parteien, Fraktionen, Gesetzesvorhaben, Ländern und Gesamtnote sortieren und anzeigen. Enthalten sind 30 themenbezogene Gesetzesvorhaben. Eine Punktezahl von 100 zeigt volle Zustimmung, null Punkte Ablehnung.
Hier zeigt sich z.B., dass einem Vorhaben wie dem Klimasozialfond lediglich Die PARTEI, Volt und die ÖdP in Deutschland zugestimmt haben.
Europa Party Check
Einen wissenschaftlich-universitären Background hat der "Europa Party Check". Er stellt Nutzer*innen 15 Fragen zu aktuellen politischen Themen wie staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft, Zuwanderung, die Erweiterung der Europäischen Union und Minderheitenrechte. Die Zustimmung lässt sich mit Punkten von Null bis zehn bewerten und gewichten.
Am Ende zeigt eine Ergebnisliste die Übereinstimmung mit den Programmaussagen verschiedener ausgewählter Parteien in Prozent. Der „Europa Party Check“ zeigt zusätzlich auch die Übereinstimmungen in bestimmten Politikfeldern an.
Fragen vor und nach dem Check dienen der wissenschaftlichen Auswertung. Das Ganze ist eine Zusammenarbeit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), der TU Darmstadt und der Universität Potsdam.
Weitere Tools
Darüberhinaus gibt es noch eine ganze Reihe an Wahlentscheidungshilfen, die wir jedoch nicht alle getestet haben. Eine gute Übersicht und Informationen bietet die Wikipedia-Seite zum Wahl-o-Mat oder grundsätzlich der Eintrag zu Wahlentscheidungshilfen.
Grundsätzlich dürften aber zwei bis drei unterschiedliche Tools ausreichen zu einem hinreichend schlüssigen Ergebnis. Unsere Empfehlung: Science-O-Mat, Sozial-O-Mat und Klimawahlcheck.eu. Je nach Interesse vertiefend begleitet von Wahl-O-Mat, Agrar-O-Mat und Bilanz Scoreboard.
Wir wünschen in jedem Fall eine gute und ressourcenbewusste Entscheidung bei der Wahl!
Mehr zur Notwendigkeit des Wandels durch Steuerung in den factory-Magazinen Change, Steuern und natürlich aktuell Wohlstand, dort auch zum Green Deal.