Freiheit

Endlicher Spaß

Woher kommt die neue Lust auf Grenzen bei den Jüngeren? Warum verlangen sie auf einmal eine Begrenzung der Freiheit und ein Ende des vogelfreien Verständnisses von Individualität? Oder sehen wir eine neue Freiheitsbewegung, die die Welt von alten Zwängen befreien will? Wie sieht das „Gute Leben“ der Zukunft aus?

Von Kira Crome

Sie gehen auf die Straße. Seit 2018 verschaffen sich die „Freitagskinder“ Gehör. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Zukunft klaut“, skandieren sie. „Klima ist wie Bier, warm ist es scheiße“, schreiben sie auf ihre Plakate. „Die Generationen vor uns haben mit der Klimakrise das größte Problem unserer Zeit verursacht und momentan machen sie keine Anstalten, es zu lösen“, werfen sie der Politik vor. Greta Thunberg, die den Schülerstreik begonnen hat, spricht mit den Großen und Mächtigen der Welt. Vor den Vereinten Nationen. Vor dem amerikanischen Senat. Beim Petersberger Klimadialog oder bei der Weltklimakonferenz in Kattowitz. Zum kurzfristig nach Madrid verlegten Klimagipfel kommt sie zu spät, weil sie über den Atlantik segelt, statt zu fliegen. Sie will ein Zeichen setzen. Die Regierungen sollen das klimaschädliche Wirtschaften endlich beenden und politisch gesteuerte Anreize für jeden Konsumenten und jedes Unternehmen schaffen, weniger CO2 auszustoßen. „Jede Verzagtheit und jede weitere Verzögerung der notwendigen Maßnahmen wird uns teuer zu stehen kommen“, werfen die Jungen den Erwachsenen entgegen.

Der Ruf der demonstrierenden Schülerinnen und Schüler nach Maßnahmen zur Einhaltung der in Paris vereinbarten Klimaziele ruft viele Gegner auf den Plan. Denn in der Konsequenz müssten sich Konsumenten, Unternehmen und Industrie in ihrem Verhalten grundlegend ändern. Kohle fördern, Steak essen, Auto fahren, Kaffee für unterwegs im Plastikbecher kaufen, nach Mallorca fliegen – alles, was für den wohlstandsgeprägten, mobilen, konsumorientierten Lebensstil unserer Zeit steht, steht zur Disposition. Viele fühlen sich deshalb von den jungen Protestlern bedrängt. Klimaschutz schränke nur ein und beschneide die individuelle Freiheit, halten sie ihnen entgegen. „Es geht gegen unsere freiheitliche Lebensweise, um die Zerstörung der marktwirtschaftlichen Ordnung“, spitzte neulich der ehemalige Unionsfraktionschef Friedrich Merz die Kritik an den „Fridays for Future“-Streiks zu.

Das Wissen soll zum Bewusstsein werden

Am Ende des Jahres 2019 ist die Straße zum Symbol für den Konflikt von traditionell verstandenem Liberalismus und Neo-Ökologie geworden: Die einen wollen freie Fahrt haben, egal wann und wohin, und das so schnell es geht. Die anderen nehmen sich ihre eigene Freiheit heraus und blockieren genau diese Straßen. Sie legen den Verkehr in den Innenstädten lahm, regelmäßig und mit wachsenden Teilnehmerzahlen. Sie protestieren gegen eine Generation, die sich ihrer Meinung nach in einer Komfortzone eingerichtet hat, und gegen Regierende, die müde geworden sind. „Politik ist das, was möglich ist“, sagt die Bundeskanzlerin nach der Verabschiedung des Klimapakets der Bundesregierung. Das unterscheide Politik von Wissenschaft und von ungeduldigen jungen Menschen. Denen aber gehen die Anstrengungen nicht weit genug.

Sie berufen sich auf evidenzbasiertes Wissen. Seit Jahrzehnten beobachten und dokumentieren Wissenschaftler, dass sich das Klima durch fossile Wirtschaftsweise verändert. „Das wird sich, nach allem was wir wissen, verstärkt fortsetzen. Die Auswirkungen davon sind voraussichtlich krisenhaft, sie könnten auch katastrophal werden“, sagt Christoph Schneider, Professor für Klimageografie am Geografischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist einer der mehr als 26.000 Wissenschaftler, die als „Scientists for Future“ die Schülerstreiks unterstützen. 

Dass die Freitagskinder die Relevanz ihres Themas nicht erst begründen müssen, unterscheidet sie von anderen Bewegungen wie etwa der Frauenbewegung oder der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Anders auch als frühere Jugendbewegungen, die von Woodstock, Aufrüstung und kaltem Krieg geprägt waren, geht es ihnen nicht um das Aufbegehren gegen den Muff älterer Generationen und die Sprengung von zu eng empfundenen gesellschaftlichen Grenzen. Als Kinder einer Leistungsgesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, ihre Freiheit immer weiter zu entgrenzen, fürchten sie vielmehr, dass der Frieden, in dem sie groß geworden sind, nicht halten wird, wenn sich die Erderwärmung nicht einhalten lässt. „Wir sehen die Freiheit und die Privilegien, die wir gerade haben, durch eben diesen dauerhaften Krisenzustand, den wir erreichen könnten, gefährdet“, sagt „Fridays for Future“-Vertreter Linus Steinmetz in einem ARD-Fernsehinterview. „Und wir wollen gerade das beibehalten, was wir gerade haben. Und dafür müssen wir eben auch gewisse Eingeständnisse machen.“

Der Planet schafft die Grenzen der Freiheit

Doch welche sollen das sein? Seitan statt Steak? Bambus statt Plastik? Elektro statt Verbrenner? Camping an der Nordsee statt Tauchen auf den Malediven? An diesen Orientierungsfragen entzünden sich derzeit die Konflikte individueller Freiheiten. Umfragen zeigen immer wieder, dass sich die Menschen mehr Engagement beim Klimaschutz wünschen. „Kollektiv wollen wir den Wandel, individuell möchten aber nur wenige den Anfang machen“, sagt Michael Kopatz, wissenschaftlicher Projektleiter am Wuppertal Institut. Das liegt auch daran, dass die angeführten Begriffe wie „Dekarbonisierung“ oder das „1,5 Grad-Ziel“ abstrakte Größen und wenig konkret sind.

„Es gibt keinen Planeten B“, mahnen die Freitagskinder indessen und weisen damit auf neue Grenzen hin. Sie seien nicht von ihnen willkürlich gesetzt, betonen sie. Die planetarischen Grenzen geben das klar limitierte CO2-Budget vor, das der Menschheit infolge der Veränderungen in Umwelt und Klima bleibt. Dass dieser Raum schwindet, ist weitestgehend Konsens. Zunehmend schärfer aber wird die Frage diskutiert, wo darin die Freiheit des einen aufhört und die des anderen beschneidet. Der britische Philosoph Isaiah Berlin beschreibt diesen Konflikt, indem er zwischen dem Konzept der positiven Freiheit und der negativen Freiheit unterscheidet. Beschneiden klimaschädliches Verhalten und die Selbstbestimmungsansprüche der einen die wirtschaftliche Zukunft und Freiheitsansprüche der anderen, müssen Politik und Gesellschaft diesen Konflikt auflösen und sich demokratisch über die Beschränkung der Freiheiten einigen, sagt die Demokratietheorie. Dieser Logik folgend gelten die Forderungen der „Fridays for Future“-Bewegung nach mehr Klimaschutz dem Bewahren der Freiheit für alle. 

Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschichte in München spricht von dem Narrativ der doppelten Zukunft: „Es geht nicht nur um die Zukunft des Planeten, sondern auch um die eigene Zukunft. Und wenn junge Menschen das fordern, ist das sehr stark und hat eine große Durchschlagskraft.“ Doch wie sieht das Gute Leben der Zukunft aus?

Das schlechte Gewissen als hoher Preis

„Wir müssen lernen, dass Lebensqualität bei dem hohen materiellen Wohlstand, den wir Deutschen haben, nicht davon abhängt, so viele Ressourcen zu verbrauchen“, sagt Schneider. Extreme Lebensstilmodelle, wie sie beispielsweise der Minimalismus-Papst Joachim Klöckner propagiert, scheinen wenig anschlusstauglich. Der Berliner hat dem Konsum abgeschworen und lebt mit nur 50 Dingen – „wenn ich die Socken einzeln zähle“. Die zentrale Frage lautet eher: „Was dürfen wir uns an materiellen Freiheiten – Konsum, Mobilität und sonstige industriegefertigte Bequemlichkeit – nehmen, ohne ökologisch und damit auch sozial über unsere Verhältnisse zu leben“, meint Niko Paech, der seit Jahren zu den Kritikern der Wachstumsökonomie zählt. Preise sollten die ökologische Wahrheit sagen und klimaschädliche Produkte nicht mehr verführerisch billig sein, rufen die Jungen den Erwachsenen entgegen. Wenn eine CO2-Steuer den Liter Sprit auf 2,50 Euro hochtreiben muss, damit der Wandel in Richtung Klimaneutralität gelingt, wer könne sich dann das Autofahren noch leisten, keifen SUV-fahrende Berufspendler zurück.

Menschen müssten aufhören, wider besseres Wissen ihren kurzfristigen eigenen Vorteil zu wählen. Während „Flugscham“ und „Zugstolz“ die Debatte prägen, zeige man mit dem Finger auf andere und versuche trotzig, die eigene Scham zu bezwingen. Dieser Mechanismus verdeutliche soziale Normen, an denen wir unser Verhalten ausrichten, sagt der Umweltpsychologe Andreas Ernst. Wenn wir behaupten, uns sei egal, wie groß unser ökologischer Fußabdruck ist, haben wir zugleich etwas begriffen. Nicht im Kopf, aber emotional.

Das schlechte Gewissen entlasten will nun die Fluglinie Easyjet. Während die Bundesregierung mit dem Klimapaket erste Schritte unternimmt, die Steuerbeiträge beim Fliegen an Bahn und Auto anzupassen, will der britische Billigflieger als erste Fluglinie künftig alle CO2-Emissionen seiner Flüge für alle Passagiere mit Ausgleichszahlungen an Umweltschutzprojekte kompensieren. Automatisch und aus eigener Kasse, statt auf freiwillige Zusatzbeiträge beim Ticketkauf zu setzen. Etwa 30 Millionen Euro pro Jahr will das Unternehmen dafür ausgeben. „Das ist nur eine Übergangslösung bis andere Technologien zur Verfügung stehen, die die CO2-Emissionen des Fliegens radikal reduzieren“, gibt Easyjet-Chef Johan Lundgren unumwunden zu. Solange wird das Fliegen die umweltschädlichste Form der Mobilität bleiben.

„Gutes Leben“ braucht viele Wege

Auch auf der Straße soll sich das Mobilitätsverhalten ändern. Die Stadt Düsseldorf beispielsweise, in die täglich 70 Prozent der Pendler aus dem Umland mit dem Auto fahren, hat 2019 auf drei stark befahrenen Strecken Umweltspuren eingerichtet. Neben Bussen, Taxis und Elektroautos dürfen fossilbetriebene Autos hier nur dann unterwegs sein, wenn darin drei oder mehr Personen sitzen. Solche „Carpool Lanes“ sind vor allem aus den USA oder Skandinavien bekannt. Sie sollen dazu animieren, Fahrgemeinschaften zu bilden. Noch produziert die neue Regelung nicht weniger Verkehr, sondern viel Rückstau und hitzige Debatten. Trotzdem will die Stadt an dem Verkehrsversuch festhalten, um drohende Fahrverbote abwenden, und hofft auf Langzeiteffekte im Mobilitätsverhalten.

Expressbuslinien, kostenloser ÖPNV, Mikromobilitätskonzepte oder Unverpackt-Läden, fair hergestellte Smartphones und Upcycling-Produkte – solche Angebote werden die Konflikte individueller Freiheitsansprüche nicht lösen. Doch sie sind wichtige erste Schritte des Ausprobierens einer veränderten Konsum- und Mobilitätsidentität, sagt die Konsumforscherin Lucia Reisch. „Sie verändern die gesellschaftlichen Normen und mit den Normen das, was als erstrebenswerter Konsum betrachtet wird.“

Die „Fridays for Future“-Bewegung platziert die Frage des „Wie weiter?“ in die Mitte der Gesellschaft und bringt lang bekannte Forschungserkenntnisse in einer neuen Form in die Debatte ein. Sie wendet sich nicht gegen ältere Generationen, sondern sucht den Schulterschluss mit ihnen und denen, die den politischen Kurs bestimmen. Sie schaffen dort Emotionalität, wo Wissenschaft der Objektivität und der politischen Neutralität verpflichtet ist. Die Suche nach dem „Guten Leben“ hat längst begonnen. Es wird die eine Lösung nicht geben. Die Wege Richtung Klimaneutralität werden so pluralistisch sein wie unsere Gesellschaft.

Kira Crome ist freie Fachjournalistin für Nachhaltigkeitsthemen in Köln. Sie schreibt für verschiedene Medien über Mobilität, erneuerbare Energien und Umweltschutz. Ihr Dienstwagen ist ein Fahrrad. Sie hat ihren Sohn zur Freitagsdemonstration im September begleitet.

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