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  • Der Planet Erde aus 29.000 Kilometern Entfernung, fotografiert von der Apollo 17 Mission 1972
    The Blue Marble: Der Planet Erde aus 29.000 Kilometern Entfernung. Foto: Apollo 17 Mission, 1972

Planetare Belastungsgrenzen: Sechs von neun sind überschritten

Die menschliche Lebens- und Wirtschaftsweise hat die meisten Grenzen des Erdystems bereits überschritten. Damit sind Widerstandsfähigkeit und Stabilität des globalen Ökosystems inklusive seiner Atmosphäre gefährdet, die Erreichung von Kipppunkten mit nicht mehr begrenzbaren Entwicklungen wahrscheinlich. Erstmals sind nun alle neun Grenzen vollständig beschrieben, innerhalb derer unschädliches menschliches Handeln möglich wäre. Sie müssten Maßstab für eine entsprechende Wirtschaft und Poltik werden.

Mit seinem hohen Ressourcenverbrauch für Material- und Energieproduktion überlastet der Mensch die Regnerations- und Widerstandsfähigkeit des Planeten – und damit seine Lebensgrundlagen. Ohne eine Rückkehr zu einem ressourcenschonenden Wirtschaften innerhalb dieser planetaren Grenzen, könnte wegen seiner engen Vernetzung das gesamte Erdsystem kippen. Das zeigt eine aktualisierte Untersuchung der so genannten planetaren Grenzen, die jetzt erschienen ist.

Die bisherigen und gegenwärtigen hohen Treibhausgasemissionen durch fossile Brennstoffe, die Waldvernichtung für Futtermittel, die intensive Landwirtschaft und ihr hoher Düngemittel und Pestizideinsatz, die Verschmutzung der Gewässer durch Chemikalien und Plastik belasten den Lebensraum Erde bereits so sehr, dass seine Kraft zur Regeneration erschöpft ist. Der Living Planet Report und der im Kalender weiter nach vorn rückende Erdüberlastungstag (Earth Overshoot Day) zeigen das seit Jahren.

Demnach verbraucht die Menschheit inzwischen die Ressourcen von 1,75 Erden, darunter die Bevölkerung in Deutschland drei, die der USA 5,1 und die Menschen in den meisten afrikanischen Ländern bräuchten derzeit keinen weiteren Planeten, ihr Kontinent lieferte und liefert aber mit die meisten Rohstoffe für die ressourcenintensive Wirtschaft der entwickelten Länder.

Ein Lebensraum mit Grenzen

Wie weit die Grenzen der Belastungsfähigkeit bereits überschritten sind und wie nah die Menschheit damit an den Kipppunkten ist, nach denen es keine Umkehr der eingetretenen Folgen und Schäden mehr gibt, und die Zerstörungen der Lebensräume zu groß für ein sicheres (Über)Leben in bisheriger Form werden, beschreiben die planetaren Grenzen - erstmals definiert 2009 von einer Gruppe von Erdsystem- und Umweltwissenschaftlern um Johan Rockström.

Nach 2015 gibt es nun ein zweites Update der Daten dazu und erstmals die vollständige Quantifizierung aller neun Belastungsgrenzen, die einen sicheren Handlungsraum für die Menschheit definieren – inklusive der durch die menschengemachten neuartigen Stoffe. Damit geben die 29 beteiligten Wissenschaftler*innen einen detaillierten Überblick über die schwindende Widerstandsfähigkeit dieses Planeten.

Und sie bestätigen, was sich bereits andeutete: Sechs von neun der planetaren Grenzen sind 2023 definitiv überschritten: Das gilt für die globale Erwärmung, die Biosphäre, die Entwaldung, die Einbringung von Schadstoffen und Plastik, die Stickstoffkreisläufe und das Süßwasser.  Gleichzeitig wächst der Druck globaler Prozesse auf diese Grenzen weiter, heißt es in der Studie, die in der Fachzeitschrift Science Advances erschienen ist.

Die Risiken der Überlastung

"Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen”, sagt Johan Rockström, Mit-Autor der Studie und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

Denn eine Grenzüberschreitung ist zwar nicht gleichbedeutend mit drastischen Veränderungen, die sofort sichtbar würden, sie markiere jedoch eine kritische Schwelle für erheblich steigende Risiken. Ähnlich wie beim menschlichen Körper.

„Wir können uns die Erde als einen menschlichen Körper vorstellen und die planetaren Grenzen als eine Form des Blutdrucks. Ein Blutdruck von über 120/80 bedeutet zwar nicht, dass ein sofortiger Herzinfarkt droht, aber er erhöht das Risiko" sagt Hauptautorin Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen.

Dass man den Blutdruck der Erde auch senken kann, zeigt sich mit dem berühmten Montreal-Protokoll von 1987 zur Bekämpfung des Ozonlochs. Das weltweite Verbot entsprechender lange wirkender Treibgase, das immer wieder als Beispiel erfolgreichen gemeinsamen Handelns aller Staaten der Erde dient, ist nach dem Vorsorgeprinzip aufgebaut.

So ist der planetare Grenzwert für den Ozonabbau beispielsweise nicht global, aber mehr und mehr regional überschritten. Immerhin: "Obwohl das in der Antarktis immer noch der Fall ist, zeichnet sich bereits eine Verbesserung ab – dank globaler Initiativen, die durch das Montrealer Protokoll erreicht wurden", betont Richardson.

Zu viele neuartige Stoffe

Dass die planetaren Grenzen der Atmosphäre und der Biosphäre durch den Klimawandel und den Artenverlust überschritten sind, war bereits vor diesem Update der Studie klar – und über die spür- und sichtbaren Folgen lässt sich nahezu täglich berichten.

Bisher gab es aber zur "Einbringung neuartiger Substanzen" keine Grenzdefinition und Kontrollparameter. In der neue Studie wurde nun zum ersten Mal die Grenze für Novel entities (‚Einbringen neuartiger Stoffe’) quantifiziert.

Und tatsächlich zeigt die Bewertung auch hier, dass sie überschritten ist – angedeutet hatte sich das bereits in einigen Studien. Per jetziger Definition umfassen Novel Entities den Eintrag aller neuartigen, vom Menschen erzeugten chemischen Verbindungen in die Umwelt, z. B. von Mikroplastik, Pestiziden oder Atommüll. Das Problem des "Plastic Planet" und des weltweit steigenden Kunststoffeinsatzes ohne adäquates Recycling ist damit ein menschliches.


Neue Definitionen und Erkenntnisse

Weiterhin werden erstmals wissenschaftliche Belege für die Quantifizierung der Grenze für die Aerosolbelastung der Atmosphäre ausgewertet. Diese Grenze ist noch nicht überschritten, allerdings kann es regional zu Überschreitungen kommen, z.B. in Südasien.

Die Grenze für Süßwasser bezieht sich nun sowohl auf sogenanntes „grünes“ Wasser (das in landwirtschaftlichen und natürlichen Böden und Pflanzen enthalten ist) als auch auf „blaues“ Wasser (das Wasser der Flüsse, Seen usw.). Beide dieser Grenzen sind überschritten.

Als weiteres Novum wurde eine neue Kontrollvariable für die Grenze zur Funktionsfähigkeit (Integrität) der Biosphäre im Erdsystem eingeführt. Die Analyse ergab auch hier eine Überschreitung, welche schon seit dem späten 19. Jahrhundert besteht, als die Land- und Forstwirtschaft weltweit stark ausgeweitet wurde.

Das Forschungsteam betont, dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten von weit mehr als nur vom Klimawandel abhängt. „Neben dem Klimawandel ist die Funktionsfähigkeit der Biosphäre die zweite Säule der Stabilität unseres Planeten. Und wie beim Klima destabilisieren wir derzeit auch diese Säule, indem wir zu viel Biomasse entnehmen, zu viele Lebensräume zerstören, zu viele Flächen entwalden usw. Unsere Forschung zeigt, dass in Zukunft beides Hand in Hand gehen muss: die globale Erwärmung begrenzen und eine funktionierende Biosphäre erhalten“, betont Mitautor Wolfgang Lucht, Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am PIK.

Erdsystem als Ganzes betrachten

Der Einsatz leistungsfähiger Computermodelle und -simulationen am PIK spielte bei der Studie eine wichtige Rolle. Das Potsdamer Erdsystemmodell (POEM) wurde beispielsweise zur Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Klima und Biosphäre eingesetzt.

Die Entwicklung der Erde wurde mit POEM und seinem Biosphärenmodell LPJmL für mehrere hundert Jahre in die Zukunft berechnet, um nicht nur Prozesse zu berücksichtigen, die relativ schnell auf Veränderungen reagieren, sondern auch die viel langsameren Erdsystemprozesse, die letztlich das Endergebnis der heute verursachten Umweltveränderungen bestimmen.

„Wissenschaft und Gesellschaft sind äußerst besorgt über die zunehmenden Anzeichen, dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten schwindet, wie sich in der Überschreitung der planetaren Grenzen zeigt. Dies bringt mögliche Kipppunkte näher und verringert die Chance, die wir noch haben, die planetare Klimagrenze von 1,5°C einzuhalten“, so PIK-Direktor Johan Rockström abschließend.

Wissen zum systematischeren Handeln

„Gleichzeitig ist es ein echter Durchbruch, dass wir den sicheren Handlungsraum für die Menschheit auf der Erde nun wissenschaftlich quantifiziert haben. Dies gibt uns einen Leitfaden in die Hand für notwendige Maßnahmen und liefert das erste vollständige Bild der Kapazitäten unseres Planeten, den von uns erzeugten Druck abzufedern", so Rockström. Dieses Wissen sei eine ausgezeichnete Grundlage dafür, "durch systematischere Anstrengungen Schritt für Schritt die Widerstandsfähigkeit des Planeten zu schützen, erholen zu lassen und wieder herzustellen.“

"Unser Hunger nach Ressourcen treibt die Erde über ihre Belastungsgrenzen", kommentiert die Ergebnisse Florian Titze, Experte für internationale Politik beim WWF Deutschland. Das Paradigma vom alternativlosen weltweiten Wirtschaftswachstum führe nicht nur in die ökologische Sackgasse - sondern auch in die ökonomische.

Die Lösungen, um wieder innerhalb der planetaren Grenzen zu agieren, seien bekannt: Erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft, ein nachhaltiges Ernährungssystem und der bessere Schutz von Ökosystemen. "Deutschland als erfolgreiche Industrienation muss sich endlich an die Spitze der ökologischen Transformation und einer zukunftsfähigen Wirtschaft setzen", so Titze.

Bisheriges Geschäftsmodell kennt keine Grenzen

Dass dafür aber erhebliche Änderungen im gegenwärtigen Wirtschaftssystem erfolgen müssten, zeigt eine zum gleichen Zeitpunkt veröffentlichte Studie des WWF: Demnach hätten zum Beispiel gerade Versicherungsunternehmen das Potenzial, die Wirtschaft zu einem stärkeren Handeln innerhalb der planetaren Grenzen zu bewegen.

Doch Klima- und Artenschutzziele haben sich bisher nur wenige Versicherungskonzerne für ihr Geschäft gesetzt. Dabei steigen die Schadenssummen durch Naturkatastrophen stetig an, wobei nur ein Teil durch die Versicherungen gedeckt wird. Wie bei der klimawandelbedingten Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 mit Schäden über 34 Milliarden Euro. Die Versicherungen trugen davon nur acht Milliarden. Die höchsten Kosten trägt die Gesellschaft.

Die Ausrichtung der gegenwärtig dominierenden Geschäftsmodelle auf die planetaren Grenzen wäre eine gute Möglichkeit, die schädlichsten Wirtschaftszweige unversicherbarer und damit wandelfreudiger zu machen. So wie es eigentlich die EU-Taxonomie schaffen sollte.

Regelungen wie das Lieferkettengesetz könnten bei entsprechender Berücksichtigung und Verfolgung Entwaldungen, Naturausbeutung und Biodiversitätsverlust verhindern. Suffizienzpolitiken zur Definition eines genügsamen Verbrauchs wie beispielsweise ein Tempolimit, gerechte Konsumkorridore für ressourcenleichten Verbrauch und Nutzung könnten ebenfalls die gefährliche Übernutzung der planetaren Kapazitäten begrenzen.

Das Problem ist allerdings, dass eine derartige Rahmensetzung bisherige ressourcenintensive Geschäftsmodelle tatsächlich zunehmend unmöglich machen würde – und das der Wille, diese und die damit verbundenen immer noch sicheren Gewinne aufzugeben und stattdessen in zukunftsfähige Geschäftsmodelle zu investieren, deren monetäre Gewinne zwar geringer, ihr gesellschaftlicher Erfolg aber wesentlich größer wäre, nicht besonders groß ist.

Weitere Berichte:
tagesschau: Der Erde geht die Puste aus
taz: Deutlich erhöhtes Infarktrisiko
Deutschlandfunk: Die Menschheit ruiniert ihre Lebensgrundlage

Mehr zum notwendigen Ressourcenschutz als bestem Versicherungsschutz im factory-Magazin Ressourcen. Oder der Bedeutung der Vielfalt eben im factory-Magazin Vielfalt. Wie der Change insgesamt aussehen könnte und wie sich die Industrie wandeln muss, in den jeweiligen Magazinen bzw. Themenbereichen. Und im factory-Magazin Design.

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