Flexible Arbeitsmodelle schienen in vielen Branchen und Unternehmen bisher undenkbar oder waren zum Scheitern verurteilt – nun rücken sie verstärkt in den Fokus. Denn seit Beginn der Corona-Pandemie arbeiten viele Menschen von zu Hause aus, wenn sie einer immateriellen, nicht-körperlichen Büroarbeit nachgehen. Rund 60 Prozent der Deutschen sehen mit den ersten Erfahrungen der Coronakrise in der Digitalisierung Chancen für Gesellschaft und Umwelt. Und schließlich ist Deutschland eine "Büronation". Rund 14,8 Millionen Menschen arbeiten hierzulande in Büros. Ihr Anteil an den insgesamt 44,6 Millionen Erwerbstätigen steigt weiter. Der Immobilienmarkt ist getrieben von steigenden Büromieten – erst Corona hat diese Entwicklung gestoppt, heißt es in einer neuen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW).
Laut der IW-Studie zeigte Corona, dass 85 Prozent der Bürobeschäftigten auch zuhause arbeiten könnten. Tatsächlich arbeitete 2018 nahezu jeder zweite Büroarbeiter zumindest gelegentlich von zuhause aus, 2006 waren es noch etwas mehr als jeder dritte. Während des Lockdowns waren die meisten Büros über mehrere Wochen nahezu verwaist, jetzt scheinen viele Unternehmen ihren Angestellten mehrere Tage in der Woche zuzugestehen.
Zwei Wissenschaftlerinnen des Wuppertal Instituts (WI) sind die Fragen nach dem Wie, wieviel und wo der Arbeit grundsätzlich angegangen – und haben die Erfahrungen aus dem Shutdown ab März 2020 einfließen lassen. „Arbeit ist das halbe Leben!? Über ein neues Statussymbol: Zeit und was wir damit anfangen“ ist das neue Diskussionspapier von Prof. Dr. Christa Liedtke, Abteilungsleiterin Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren und Dr. Anne Caplan, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich Innovationslabore des WI betitelt. Darin fordern sie, nachhaltige und resiliente Arbeitsmodelle zu etablieren, um so die neu gewonnene Achtsamkeit für Zeit als Chance zu nutzen, die Arbeits- und Alltagswelt umzukrempeln. Dabei nehmen sie Zeit als wertvolle Ressource in den Fokus.
Viel Zeit fürs Pendeln
Zunächst eine Bilanz des Zeiteinsatzes: Rund ein Drittel des Tages investieren die Deutschen in ihren Job – hinzu kommt noch der Weg zur Arbeit. Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamts in 2017 dauert der Arbeitsweg für 47,5 Prozent der Pendlerinnen und Pendler zwischen zehn und 30 Minuten, 22,1 Prozent brauchen 30 bis 60 Minuten. Über die Hälfte der Befragten wären laut einer Studie des Karriereportals Stepstone (2018) sogar bereit, bis zu 60 Minuten pro Arbeitsweg in Kauf zu nehmen. Bei rund 220 Arbeitstagen pro Jahr ergäbe das für den Hin- und Rückweg insgesamt 440 Stunden – also knapp 55 Arbeitstage im Jahr, die allein für den Arbeitsweg aufgewendet würden.
„Die Zeit, die für das Pendeln investiert wird, fehlt oftmals in anderen Lebensbereichen, etwa, um sie mit dem Partner oder der Partnerin, Freunden oder der Familie zu verbringen oder auch für ein Ehrenamt oder Hobbies. Das führt zu veränderten Konsumgewohnheiten“, erklärt Christa Liedtke. Denn Menschen, die täglich zur Arbeit fahren, verbrauchen mehr Ressourcen gegenüber denjenigen, die von zu Hause arbeiten. Gleichzeitig wird der Zeitverlust durch das Pendeln häufig beispielsweise mit schnelleren Autos und einem Saugroboter im Haushalt kompensiert: „Um wertvolle Zeit zu sparen, führen solche Anschaffungen letztendlich zu zusätzlichem Ressourcenverbrauch zum ohnehin schon ressourcenintensiveren Arbeitsweg“, sagt die Wissenschaftlerin.
Zeitschonendere Arbeitszeitmodelle schützen das Klima
Seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 verlegten viele Menschen ihren Arbeitsplatz innerhalb kürzester Zeit aus dem Büro nach Hause – oder die Arbeitgeber schickten sie ins Home Office, um die Hygienebedingungen und die Infektionsgefahr zu verringern, damit der Geschäftsbetrieb weiterlaufen konnte.
Ohne dass die Gesellschaft diesen Wandel planen konnte, hat die Digitalisierung in Zeiten der Krise neue Arbeits- und damit Lebensmodelle eröffnet oder bestätigt. Damit verbunden ist auch eine Veränderung der Wahrnehmung von Zeitbudgets im Alltag.
Im Diskussionspapier „Arbeit ist das halbe Leben!? Über ein neues Statussymbol: Zeit und was wir damit anfangen“ nehmen die beiden Autorinnen Zeit als wertvolle Ressource in den Fokus. Sie gehen der Frage nach, wofür die Menschen ihre Zeit investieren und verwenden wollen. Insbesondere Aktivitäten, die den sozialen Zusammenhalt fördern, wie beispielsweise für die Nachbarschaft einkaufen gehen, seien dabei häufig ressourcenschonender als nur für den eigenen Bedarf zum Supermarkt zu fahren. Resiliente Gemeinschaften tragen zudem dazu bei, das Klima zu schützen.
Es gelte, Zeitknappheit aufzulösen, um mit Hilfe von mehr Zeitkontingenten, Tätigkeiten dauerhaft auf zeitintensives, die Lebensqualität steigerndes und ressourcenschonendes Engagement umzulenken, schreiben die beiden Autorinnen. "Dies sind vor allem Tätigkeiten, die die Gesellschaft entwickeln helfen und in Corona-Zeiten sog. systemrelevante Tätigkeiten waren und sind: versorgende Tätigkeiten, Gesundheit und Pflege, Bildung für gesellschaftliche individuelle Entwicklung und sozialer Austausch wie auch regional wertschöpfende und global vernetzte wirtschaftliche Produktionsstrukturen. Dabei geht es um möglichst hohe Wertschöpfung eben nicht nur bei uns, sondern in allen Regionen der Welt."
"Soziales Engagement – sei es bezahlt oder als Ehrenamt – ist mit hoher Wertschöpfung für Gesellschaft und Wirtschaft verbunden und sollte daher einzahlen auf den sozialen Status und die wertschöpfende Anerkennung. Vor Corona war genug Geld im System um dieses Experiment und diese Entwicklung zu wagen. Während und nach Corona ist es für unsere Gesellschaft umso wichtiger, dies im Blick zu halten, will man nicht in alte Denk- und Handlungsmuster zurückfallen, die eben diese Situation erzeugt haben."
Neue Arbeits- und Zeitmodelle entwickeln
Vor diesem Hintergrund fordern die beiden Autorinnen jetzt neue gesellschaftliche Modelle zu diskutieren, die unter anderem folgende Aspekte berücksichtigen:
- Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sollten einen neuen Gesellschaftsvertrag für Arbeit entwickeln, der sozial-ökologische Marktwirtschaft fördert, gesellschaftliches Engagement integriert, sozialen Ausgleich schafft und öffentliche wie privatwirtschaftliche Budgets aushandelt.
- Unternehmen sollten ihre Klimaschutz-Aktivitäten zur Schonung von Umwelt und Biodiversität nachvollziehbar umsetzen und flexiblere Arbeitszeitmodelle und -formen für Mitarbeitende fördern.
- Über eine neue Plattform für gesellschaftliches Handeln und Kooperationen sollte soziales Engagement transparent und unkompliziert (teil-)finanziert werden können.
Beiträge, wie Zeit als Ressourcenfaktor wirkt, lesen Sie z. B. in den factory-Magazinen Wert-Schätzung, Glück-Wunsch und Rebound. Welchen Einfluss Mobilität und Digitalisierung auf Ressourcenverbrauch und Klimaschutz haben, darüber berichten die gleichnamigen Magazine Mobilität und Digitalisierung. Die Magazine stehen kostenlos zum Download bereit. Einzelne Beiträge finden Sie auch in den jeweiligen Themenbereichen online.