Bis 2050 will die EU klimaneutral wirtschaften, bis 2045 Deutschland. Ziel ist eine Dekarbonisierung der Wirtschaft, um die zerstörerische Erderhitzung begrenzen zu können. Je schneller das geschieht, um so günstiger für Wirtschaft und Gesellschaft.
Um "klimaneutral" zu werden, suchen viele produzierende Unternehmen nach CO2-Kompensationsprojekten. Sie zahlen dafür, dass an anderer Stelle die Menge Kohlenstoff gespeichert wird, die sie an die Atmosphäre abgeben. Denn sie selbst könnten ihre Treibhausgas-Emissionen vollständig nur zu sehr viel höheren Kosten reduzieren.
Hinweise geben die Preise im so genannten Kohlenstoffmarkt: So kostet im gesetzlich regulierten EU-Emissionshandel ein Emissionszertifikat für eine Tonne CO2 im März 2025 rund 68 Euro, ein "Nature Based Offset" im freiwilligen Kohlenstoffmarkt nur 0,49 US-Dollar.
Kompensation im Süden günstig
Diese "naturbasierten" Kompensationsprojekte liegen häufig im Globalen Süden, ihre Wirkung ist selten genau definiert, vielfach setzen sich die projektbetreibenden Unternehmen im Einklang mit den örtlichen Behörden über die Rechte der indigenen Bevölkerung hinweg.
Deren traditionelle Lebensweise ist allerdings meist der größte Garant für den Erhalt der Biodiversität und der natürlichen Ressourcen, weil die Übernutzung den Verlust der Lebensgrundlagen bedeuten würde.
Obwohl Ressourcenschutz der beste Klimaschutz ist, steht seine Schutzfunktion durch Erderhitzung und ungebremste Ausbeutung unter hohem Druck. Und Kompensationsprojekte, die eigentlich Klimaschutz versprechen, können diesen Druck weiter erhöhen.
Kohlenstoffprojekte ohne Beteiligung
Eine gerade veröffentlichte Studie der Maasai International Solidarity Alliance (MISA) – zu deren Mitgliedern das Hilfswerk Misereor, die Menschenrechtsorganisation FIAN und die Gesellschaft für bedrohte Völker gehören – zeigt die problematischen Auswirkungen derartiger Projekte.
Die Studie dokumentiert die Auswirkungen zweier großflächiger Kohlenstoffprojekte auf die nomadisch-lebende Volksgruppe der Maasai im Norden Tansanias. Dabei wurden zahlreiche schwerwiegende Missstände festgestellt: zweifelhafte Vorabzahlungen an Dörfer, intransparente und teils rechtswidrige Vertragsabschlüsse und die Missachtung völkerrechtlicher Normen - insbesondere hinsichtlich der Beteiligung der lokalen Bevölkerung.
Deren Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeit ist stark eingeschränkt, heißt es in der Studie, vielen Gemeindemitgliedern fehle grundlegendes Wissen über Kohlenstoffmärkte, Vertragsbedingungen und deren Folgen.
Dadurch würden die Gemeinden zunehmend die Kontrolle über ihr traditionelles Weideland verlieren und könnten überlebenswichtige jahrhundertealte Praktiken nicht mehr ausüben.
Schneller weiden gefährdet Resilienz
Konkret geht es den Projekten um die CO2-Speicherkapazität der Savannen Tansanias. Derartige Graslandschaften bedecken fast ein Drittel der Erdoberfläche – und sind riesige Kohlenstoffspeicher. Die Massai sollen mit ihren Rinderherden nun schneller durch die Savanne ziehen, damit diese mehr Kohlenstoff speichern kann.
Das Grasland werde dafür auf Karten in Blöcke eingeteilt und die Hirten verpflichtet, die Herden alle zwei Wochen von einem Block auf den anderen zu treiben, berichtet Simone Schlindwein in der taz: "Die Grashalme sollen nie kürzer als 5 Zentimeter sein, um schnell auf 10 Zentimeter zu wachsen. Ein auf künstlicher Intelligenz basierender Algorithmus berechnet dann mithilfe von Satellitendaten, wie viel CO₂ eingelagert wird."
Statt wie üblich alle drei Monate sollen die Massai die Herden nun alle zwei Wochen rotieren lassen. „Manchmal gibt es in gewissen Gegenden Krankheiten wie Zecken, dann vermeiden wir diese“, sagte der Maasai-Anwalt Joseph Oleshangay der taz. Rotationsprinzipien würden diese „jahrhundertelange Funktionsweise und Erfahrungswerte in der Viehzucht untergraben“, so Oleshjangay.
Verträge binden Familien 40 Jahre
Traditionell orientieren sich die Weiderouten der Maasai an der Wasserverfügbarkeit, den wechselnden Trockenzeiten und den Wanderungen ihrer Weidetiere. Die Weidemuster und die Mobilität der Maasai würden somit einen dauerhaften positiven Beitrag zur Erhaltung und Widerstandfähigkeit der trockenen Weidegebiete leisten.
Durch die beiden neuen Kohlenstoffprojekte müssen sich die Maasai nun der Kohlenstoffspeicherung unterordnen – teils für eine Dauer von bis zu 40 Jahren, heißt es in der Mitteilung von FIAN. „Die neuen Vorgaben der Kohlenstoffprojekte machen traditionelle Weidepraktiken unmöglich. Wir fordern deshalb einen sofortigen Stopp der Vorhaben“, sagt Roman Herre, Agrarreferent der Menschenrechtsorganisation FIAN.
Die zwei untersuchten Projekte konkurrieren in Tansania um Weideland für ihre Kohlenstoffprogramme. Durch Änderungen der Weideflächennutzung soll zusätzlicher Kohlenstoff im Boden gespeichert werden und dadurch Kohlenstoff-Emissionen kompensiert werden.
Eines der Projekte wird von Volkswagen finanziert und erstreckt sich über knapp eine Million Hektar – eine Fläche etwa halb so groß wie Hessen. „Die Maasai leben dort im Einklang mit der Natur: mit ihrem tief verwurzelten Wissen bewahren sie die Landschaft und schützen die einzigartige Artenvielfalt für kommende Generationen“ betont Sarah Reinke, Leiterin der Menschenrechtsarbeit der GfbV.
Unternehmerische Verantwortung ernst nehmen
Bisherige Gespräche zwischen Volkswagen und den Anwälten der Maasai über die Berücksichtigung ihrer Rechte und Interessen seien weitestgehend ergebnislos geblieben, heißt es. Trotz der Darstellung erheblicher Bedenken hätte es seitens Volkswagen keine substanziellen Antworten gegeben.
„Es ist unerlässlich, dass Unternehmen nicht nur Nachhaltigkeitsversprechen abgeben, sondern auch aktiv an der Lösung dieser Probleme mitwirken", fordert Selina Wiredu, afrikapolitische Referentin bei Misereor. Konzerne wie Volkswagen dürften nicht im Namen der Nachhaltigkeit Land- und Menschenrechte gefährden.
Das beinhaltee, dass sie bei ihren Projektplanungen die ansässige Bevölkerung von Beginn an transparent einbeziehen und sich ihrer unternehmerischen Verantwortung nicht entziehen, so Wiredu.
Stopp und Aufklärung gefordert
MISA fordert einen vollständigen Stopp aller Bodenkohlenstoff-Projekte in den Weidegebieten der Maasai bis 2030, um eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung und angemessene rechtliche Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene zu ermöglichen.
Dazu müsse der rechtliche und politische Rahmen gestärkt werden und eine umfassende Beteiligung der lokalen Gemeinschaften inklusiver aller Gruppen sichergestellt werden, die Verträge müssen fair, in der Landes- und den örtlichen Sprachen verfasst und öffentlich zugänglich sein.
"Sie dürfen grundsätzlich nicht im Interesse der Initiatoren der Emissions-Ausgleichsprogramme oder des Staates verzerrt sein", heißt es. "Das Geschäft mit den Bodenkohlenstoff-Projekten im Norden Tansanias droht zu einem weiteren Mechanismus von Landgrabbing zu werden, der das kulturelle Erbe, die Lebensgrundlagen und die Ernährungssicherheit der Maasai-Hirten bedroht", so das Fazit.
Darüber hinaus gäbe es erhebliche wissenschaftliche Bedenken darüber, ob die auferlegten Änderungen der Weidepraktiken zu einer zusätzlichen Kohlenstoffspeicherung führen werden. Dadurch könnten die Bodenkohlenstoffprojekte für die Käufer wertlos werden.
Geld statt Geduld
Laut Bericht haben bereits sechs der elf von MISA besuchten Gemeinden Verträge mit tansanischen Projektunternehmen unterzeichnet. Vier hätten auch Vorauszahlungen erhalten – mit unbekanntem Zweck.
Die insgesamt 16 Gemeinden sollen in den nächsten Jahrzehnten rund 13 Millonen Dollar erhalten, verspricht Tansanias Regierung den Maasai-Hirten.
Volkswagen, das über ein JointVenture mit dem Kompensationshändler ClimatePartner an einem der Projekte beteiligt ist, will so CO2-Emissionen an seinen Standorten "klimaneutral" bewerten können. Nach dem Maasai-Anwahl Oleshangay VW auf die Probleme hinwies, sei das zuvor prominent dargestellte Projekt von der VW-Website verschwunden, berichtet die taz.
Wie Unternehmen wirklich klimaneutral werden können, beschreibt der Wissenschaftler Nicolas Kreibich im factory-Magazin Klimaneutralität bzw. im Themenbereich. Dort und im Magazin finden sich weitere Beiträge zu Sinn und Unsinn der “Klimaneutralisierung”.