Klimaneutral

Die Notwendigkeit der Netto-Null

Der Begriff Klimaneutralität scheint für viele Menschen verständlicher zu sein als das 1,5- oder 2-Grad-Ziel. Dabei geht es hier meist um Treibhausgasneutralität oder lediglich CO2-Neutralität. Warum Klimaneutralität so gut ankommt, die Bilanzierungsräume wichtig sind und sich damit auch die wirkungsvollsten Wege zur Emissionsreduktion eröffnen.

Von Hans-Jochen Luhmann

Mit dem Paris Abkommen 2015 der Vereinten Nationen (UN) und mit der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019 hat sich die Klimapolitik endlich global durchgesetzt. Die ersten beiden Anläufe nach 1992 sowie um 2009 waren versandet. Sie wurden durch die US-Innenpolitik bzw. die so genannte „globale Finanzkrise“, die nur eine westliche war, ausgehebelt. Schließlich erweist sich die Ernsthaftkeit einer Klimapolitik darin, dass sie als Industriepolitik und nicht als Schutzpolitik konzipiert ist.

Demnach ist der gegenwärtige dritte Anlauf der erste ernsthafte. Dabei ist das gewählte Kriterium paradox, sogar mehrfach. Denn die konzeptionellen Grundlagen der globalen Klimapolitik sind nun einmal „zum Schutz“ formuliert. Die Brücke ist: Sie sind pragmatisch gemeint.

Die sieben Gase des Klimawandels

Artikel 2 der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) von 1992 fordert den Stopp des „menschengemachten“ (anthropogenen) Klimawandels – das zu erreichen ist seit 30 Jahren globaler Konsens. Seinen Anteil am Klimawandel „macht“ der Mensch durch von ihm veranlasste Emissionen einer begrenzten Liste von langlebigen und deshalb ubiquitär wirkenden Treibhausgasen – so die Stilisierung in den politisch gemeinten UN-Rechtstexten „Kyoto-Protokoll“ und „Paris Abkommen“.

Die Liste umfasst inzwischen sieben Arten von Gasen. Das ist eine Fokussierung in pragmatischer Absicht. Selbstverständlich gilt: In einer exakt naturwissenschaftlichen Beschreibung ist der menschengemachte Klimawandel nicht durch diese sieben Gase alleine bedingt. Pragmatisch aber ist es legitim, die anderen Gase wegzulassen. Sie sind nämlich überwiegend Gegenstand einer anderweitigen Regulierung wie für Ozonschicht-schädigende Stoffe oder kurzlebige Gase, deren Emissionen die Luftreinhaltepolitik begrenzen soll.

Darüber hinaus gibt es einen Klimaeinfluss des Menschen, der nicht über ubiquitär wirkende Gase läuft, jedoch sehr klein ist. Das alles zur Seite zu stellen und sich unter dem Titel „Klimapolitik“ allein auf die sieben Gase zu beziehen, ist also legitim und vernünftig.

Begrifflich bleibt es aber dennoch schief. Bemerken das Juristen oder Laien, die den einbettenden Kontext der Regulierung nicht präsent haben, kann es passieren, dass sie damit grundsätzlich ins Gericht gehen.

Die Ziele: „Netto-Null“ versus „Klimaneutralität“

Nun scheinen „Netto-Null“ oder „Klimaneutralität“ die Begriffe der Stunde zu sein. In der öffentlichen und klimapolitischen Diskussion haben sie offensichtlich die Ziele der maximalen Temperaturerhöhung und Begrenzung der Erderhitzung abgelöst.

Dabei wäre es rechtlich präziser, hinsichtlich der klimapolitischen Regulierung auf UN-Ebene erst noch auf das 2010 festgeschriebene 1,5- oder 2-Grad-Ziel Bezug zu nehmen. Nur so erhält man eine Antwort auf die Frage, die 1992 noch offen gelassen worden war, nämlich auf welchem Niveau der Änderung der Stopp des menschengemachten Klimawandels erreicht werden soll.

Das Temperaturziel erlaubt es nämlich, ein Budget an Treibhausgasen zu bestimmen, die noch emittierbar sind, ohne das jeweilige Temperaturziel zu verletzen. Durch Rückrechnung lässt sich der entsprechende Minderungspfad bestimmen. Doch das sind Vorgaben, die sich an die Weltgemeinschaft als Ganze richten. Seitdem die Klimaherausforderung ernst genommen wird, will aber jeder Subakteur für sich selbst Ziele bestimmen, an denen er sein strategisches Handeln orientieren kann.

Dafür eignen sich eher die Begriffe „Netto-Null“ oder „Klimaneutralität“. Sie bezeichnen anschaulich die Absicht bzw. das Ziel, nicht mehr für positive Emissionen verantwortlich zu sein (Netto-Null) oder nicht mehr länger zum Klimawandel beizutragen (Klimaneutralität).

Die Attraktivität des Begriffs „Klimaneutralität“ ergibt sich aus dem für jedermann verständlichen Wortsinn: Wenn ich meiner Verantwortung für den menschengemachten Klimawandel gerecht werden will, dann muss ich meinen Einfluss auf das Klima so beenden, dass ich keinen Einfluss mehr auf dieses Klima habe – ich muss mich „klimaneutral“ machen. Der Sinn des Begriffs erschließt sich ohne Kenntnis eines klimapolitischen Hintergrundes.

Bei „Netto-Null“ ist das anders: „Null“ alleine lässt die Maxime des „Beendens“ anklingen. Ich muss auf neuem technologischen Niveau zurück hinter die Industrielle Revolution. Ich habe die Nutzung des erdgeschichtlichen Kohlenstoff-Depots einzustellen. Das ist noch selbstverständlich.

Das vorangestellte „Netto“ aber erschließt sich nur denjenigen, die in der etablierten Klimapolitik und ihren Maximen einigermaßen firm sind. Dafür muss man Zweierlei wissen. Erstens: Es gibt nicht nur Quellen für Treibhausgase, es gibt auch Senken. Und zweitens: Mit vermiedenen Emissionen wird zwischen Staaten eine Art Handel getrieben. „Die“ Emissionen von Treibhausgasen eines Staates sind nicht die, die von seinem Staatsgebiet aus in die Atmosphäre entlassen werden. Nein, es gilt das Possessiv-Prinzip, es geht um diejenigen Emissionen, die einem Staat als „seine“ zugerechnet werden.

Die zugerechneten Emissionen werden in einer Art Buchführung festgestellt, in der faktische Gasvolumina mit den Salden von Quellen und Senken sowie von Im- und Export addiert werden. Deswegen das „Netto“ vor der Null. „Mitgekauft“ wird mit dieser Sprechweise, dass es allein um Gase gehe.

Der Erklärungsansatz am Beispiel von Territorialstaaten gilt auch für Institutionen wie Unternehmen, staatliche Körperschaften und Kultur-Einrichtungen. Der Unterschied liegt allein in den Bilanzrichtlinien, die jeweils zur Anwendung kommen. Für Territorialstaaten sind die des IPCC maßgeblich, für Institutionen gilt das Geneva Protocol.

Die Relation Treibhausgasneutralität versus CO2-Neutralität

Genau genommen, das zeigt ein Blick in die Rechnungen der bilanzierenden Institutionen, geht es in aller Regel um Treib­hausgasneutralität oder gar lediglich um CO2-Neutralität. Dabei gilt prinzipiell für den Bilanzumfang:

Klimaneutralität > Treibhausgas­neutralität > CO2-Neutralität

Für das jeweilige „Mehr“ gilt: Der Überschuss von Klima­neutralität gegenüber Treibhausgasneutralität ist gering. Es geht dabei im Wesentlichen um Effekte beim Fliegen in großer Höhe, also Langstrecken-spezifische Effekte, sowie um Effekte von Ruß, die vor allem schifffahrtsbedingt sind. Wenn Fahrzeuge in diesen beiden Sektoren irgendwann mit Treibstoffen aus erneuerbaren Quellen betrieben werden, wird dieser Überschuss deutlich gemindert.

Darüber hinaus können Differenzen im Albedo-Effekt, der Reflexionsstrahlung von Oberflächen, einen gewissen Unterschied ausmachen – dafür aber ist bislang keine Klimapolitik konzipiert.

Der Überschuss von Treibhausgasneutralität gegenüber CO2-Neutralität dagegen ist erheblich. Aber auch hier kann es pragmatisch gerechtfertigt sein, sich auf das Ziel CO2-Neutralität zu beschränken.

Die Unterschiede der Entstehung und Neutralisierung

Um den quantitativen Hintergrund zu verdeutlichen: Klar ist, dass der menschengemachte Klimawandel mit der Industriellen Revolution vor etwa 300 Jahren in die Welt gekommen ist. Vorher waren die Gesellschaften allein auf unmittelbar vorhandene Umgebungsenergieflüsse angewiesen. Das Wesen dieser wirklichen Revolution war die Abkehr hiervon. Stattdessen griffen die Menschen auf Kohlenstoffdepots zu, die über Jahrmillionen durch Ausschleusung aus dem natürlichen Kohlenstoff-Kreislauf gebildet worden waren. Schließlich heißen die „fossilen“ Energieträger so, weil sie unter der Erde lagern.

Dominant unter den menschengemacht-emittierten Treibhausgasen (58 Gigatonnen CO2-Äquivalente in 2018) ist deshalb das so genannte „fossile“ CO2 (32,7 Gt CO2, entsprechend 56 Prozent), das bei der Verbrennung der Kohlenstoff-haltigen fossilen Energieträger entsteht, von Kohle, Öl und Erdgas.

Dieses CO2 aus fossilen Quellen bildet aktuell einen Anteil von knapp zwei Dritteln an den gesamten Emissionen (der sieben Treibhausgase) – verwendet ist dabei bereits die GWP-100-Metrik, die das „Global Warming Potential“ für einen Zeitraum von 100 Jahren gemäß dem vierten Sachstandsbericht der UNFCC-Klimarahmenkonvention  beschreibt.

Bei Institutionen, die allein deshalb Treibhausgase emittieren, weil sie fossile Brennstoffe einsetzen, also klassische technische Anlagen betreiben, ist der Bezug allein auf CO2-Neutralität völlig sachgemäß – sofern sie nicht in die Verantwortung für ihre Vorleistungen, die Lieferketten, gehen wollen.

Die Bedeutung der übrigen Treibhausgase lässt sich der Abbildung auf Seite 13 im factory-Magazin entnehmen. Vier der genannten sieben Gase sind darin als „F-Gase“ zusammengefasst. CO2 aber wird in zwei Kategorien unterteilt: Neben dem fossilen CO2 ist die Emission von rezentem CO2 ausgewiesen, sie wird als LULUCF-Emission bezeichnet. Das ist ein saldierter Wert, es gibt eben Prozesse, die zum Biomasse-Aufbau führen, und umgekehrt welche, die zur Degradation und zu erheblichen CO2-Freisetzungen führen.

Man erkennt, dass das restliche Drittel der Treibhausgas-Emissionen im Wesentlichen Methan (CH4), rezentem CO2 und Di-Stickstoff-Oxid (N2O) zuzurechnen ist. Bei Methan gibt es einen wesentlichen Anteil aus Förderung und Transport von Öl und Erdgas, ist also den fossilen Energieträgern als Vorleistung zuzurechnen. Bei N2O ist ein (kleinerer) Anteil industriell bedingt.
Ansonsten haben wir es bei diesem Drittel an THG-Emissionen mit Effekten aus Produktionsprozessen zu tun, die in Stoffwechselprozesse der Natur eingreifen, die sie für menschliche Zwecke manipulieren.

Damit ist die Differenz zwischen CO2-Neu­tralität und Treibhausgas-Neutralität bestimmbar. Quantitativ ist sie erheblich: „Von oben“ gerechnet liegt sie bei mehr als 40 Prozent – diesen Teil des Ganzen blendet man im Durchschnitt aus, wenn man willkürlich seine Zielstellung von Treibhausgas-Neutralität auf CO2-Neutralität verengt. Die Ausblendung aber kann gerechtfertigt sein, es kommt auf den Typ der Aktivität, der Produktion, des Verbrauchs an, für den es gilt, in Verantwortung zu gehen.

Bei den Aktivitätsformen, die für das „Mehr“ der Treibhausgas- gegenüber der CO2-Neutralität typisch sind, geht es um Produktionsformen mit Naturinterferenz, also Land- und Fortwirtschaft, aber auch um abfallwirtschaftliche Aktivitäten. In konsumseitiger Betrachtung stehen die Ernährung und alle Formen der Holznutzung im Zentrum.


Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert des Wuppertal Instituts. Er ist Vorstandsmitglied der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler und dort Mitglied der Studiengruppe Europäische Sicherheit und Frieden. Zehn Jahre war er ChefÖkonom eines Ingenieurunternehmens, 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er schreibt für Die ZEIT, klimareporter.info und viele weitere Medien. Für das factory-Magazin Sisyphos (2/2014) schrieb er So lasst uns denn die Macht ergreifen!

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