Die Bedeutung der Artenkrise wird immer noch unterschätzt. Das drohende "sechste Massenaussterben" bedingt durch Klimakrise und massive Übernutzung der Natur gefährdet die Grundlagen menschlichen Lebens existenziell. Für die Sicherung von Wirtschaft und Wohlstand ist ein weitgehender Artenschutz überlebensnotwendig, machen die Expertinnen auch im factory-Magazin Vielfalt deutlich.
Am 11. Oktober 2021 startet nun die 15. UN Biodiversitätskonferenz im chinesischen Kunming, nachdem sie vor einem Jahr wegen Covid-19 verschoben worden war. Sie bildet den Auftakt für eine Neuausrichtung des weltweiten Artenschutzes für die kommenden zehn Jahre. Bis zum 15. Oktober werden Regierungen aus der ganzen Welt online den ehrgeizigen Plan diskutieren, der den Verfall der Artenvielfalt auf der Erde stoppen soll. Die zweite Runde soll im Frühjahr 2022 ebenfall im chinesischen Kunming in hybrider Form stattfinden.
Denn die Artenkrise drängt zum Handeln: Bereits 2019 hatte der Weltbiodiversitätsrat IPBES gewarnt, dass eine Million Arten aussterben könnten, sollte der Mensch seinen Raubbau an der Natur fortsetzen. Im Juni 2021 legten Weltklimarat und Weltbiodiversitätsrat erstmals gemeinsame Vorschläge vor, um Artensterben und Klimawandel in den Griff zu bekommen – denn fest steht, dass das eine sich ohne das andere nicht lösen lässt.
Die wichtigsten Ziele im aktuellen Entwurf für das globale Rahmenwerk für 2030:
- 30 Prozent des Planeten soll unter Schutz stehen (derzeit sind es 17 Prozent der Landfläche und 10 Prozent der Ozeane)
- Ein Fünftel der degradierten Flächen sollen renaturiert werden
- Der Einsatz von Pestiziden soll um zwei Drittel sinken und kein Plastikmüll mehr in die Meere gelangen
- Finanzielle Anreize, welche die Artenvielfalt schädigen, sollen um eine halbe Billion Dollar pro Jahr abgebaut werden.
Dass die chinesische Regierung ein gelingendes Abkommen auf dem Artengipfel für einen Image-Erfolg wie Paris nutzen könnte, dafür gibt es gewisse Hoffnungen. Bisher hatte sich das Land in den Verhandlungen über einen neuen globalen Rahmen zur Bewältigung der Biodiversitätskrise sehr zurückgehalten. Doch nun gilt es, als Gastgeber der Konferenz in Kunming zu glänzen und die internationalen Verhandlungen zum Erfolg zu führen.
"Viel liegt an China, damit Kunming nicht zu einem zweiten 'Kopenhagen', dem dortigen gescheiterten Klimagipfel von 2009, wird. Dann würde es zum Synonym für ein Scheitern der Weltgemeinschaft bei der Bewältigung der Biodiversitätskrise", sagt Georg Schwede, Europachef der Campaign for Nature, einer globalen Naturschutzinitiative der Wyss Foundation und National Geographic.
Glaubwürdige Insider wie Dimitri de Boer, Chef des China Büros von Client Earth und Berater des einflussreichen China Council (CCICED) vermuten, dass von China auf dem Gipfel einige dringend notwendige und wegweisende Signale zu Schlüsselthemen zu erwarten seien, heißt es in einer Pressemitteilung der Kampagne. Diese würden u.a. die drastische Erhöhung der internationalen Biodiversitätsfinanzierung, den Schutz von mindestens 30 Prozent der Land-und Meeresfläche bis zum Jahr 2030 und die Reduzierung der Treiber des Verlustes an biologischer Vielfalt umfassen – also weitgehend die gesetzten Ziele.
Insbesondere die Aussicht auf eine ausreichende Finanzierung des Abkommens in Höhe von ca. 620 Milliarden Euro gilt als Schlüsselfaktor, um ein Scheitern der Verhandlungen in Kunming zu verhindern. Hier bestünden Hoffnungen, dass China mit einer bedeutenden Finanzzusage ein wichtiges Signal an die Länder des Nordens, einschließlich Deutschland, senden könnte. Diese müssten ihrer historischen und moralischen Verantwortung für die Biodiversitätskrise gerecht werden und ihre internationalen Mittel für den Schutz von Biodiversität massiv erhöhen. Die nächste Bundesregierung müsse die internationalen Mittel für Biodiversitätsschutz auf mindestens sechs Milliarden Euro jährlich erhöhen, fordert Schwede.
Der Schutz der Biodiversität ist auch die Nummer Eins der Empfehlungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen für die gerade beginnenden Koalitionsverhandlungen zur neuen deutschen Regierung: "Die Biodiversitätskrise ist ebenso bedrohlich wie die Klimakrise und sollte von der Politik mit der gleichen Dringlichkeit behandelt werden", heißt es dort. "Um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, muss die Landnutzung verändert werden, was insbesondere die Land- und Forstwirtschaft betrifft."
Dass gerade Deutschland beim Artenschutz stark schwächelt, zeigt auch eine neue Studie zu Wäldern in Deutschland, die Greenpeace zum Gipfel in Kunming vorlegt. Demnach dürfen in lediglich etwa drei Prozent der Wälder Deutschlands keine Bäume gefällt werden – obwohl 67 Prozent der Wälder in ausgewiesenen Schutzgebieten liegen und damit offiziell als geschützt gelten.
Offiziell will die EU in Kunming einen Rahmen dafür schaffen, dass bis 2050 alle Ökosysteme der Welt angemessen geschützt sind. Hierzu verabschiedete sie in ihrer Biodiversitätsstrategie, zehn Prozent der Landflächen und Meeresgebiete streng zu schützen. Deutschland habe jedoch bisher keinen Plan, wie es dieses Ziel erreichen will, moniert Greenpeace.
Die Studie zeige, dass die Bundesregierungm fünfzehn Prozent der Wälder dauerhaft rechtlich vor Holzeinschlag absichern müsse, um die Ziele der EU zu erreichen.
Zwar gäbe es deutschlandweit eine Vielzahl von Schutzgebietskategorien mit über zwanzig verschiedenen Bezeichnungen. Doch den internationalen Schutzkategorien der Weltnaturschutzunion IUCN würden sie größtenteils nicht entsprechen. Selbst das Bundesnaturschutzgesetz setze dem Holzeinschlag in Schutzgebieten kaum Grenzen.
Dass der Schutz vor Naturnutzung durch den Menschen der beste Garant für den Erhalt und auch das Wiedererstarken der Artenvielfalt ist, zeigen wiederum viele "Life Rebounds"-Beispiele der Campaign for Nature – oder auch im factory-Beitrag Viel mehr wert.
Die Vorgaben in dem Entwurf für das Abkommen von Kunming wären ein guter Anfang, meint Benjamin von Brackel, Autor des Buchs Die Natur auf der Flucht: „Nur wenn wir der Natur wieder mehr Raum schenken und zugleich den Klimawandel begrenzen, lässt sich die absehbare Tragödie für Mensch und Natur noch verhindern.“
Mehr zum Schutz der Biodiversität auch im factory-Magazin Vielfalt – und zum Schutz der diversen Diversitäten menschlichen Daseins und Wirtschaftens. Oder auch im entsprechenden Themenbereich.