Das sechste große Massenaussterben nimmt seinen menschengemachten Lauf. Seit 1970 hat die Menschheit durchschnittlich 69 Prozent aller beobachteten Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien vernichtet. Wie rasant und umfangreich die Verlusts sind, macht auch der neue Living Planet Report des WWF wieder einmal deutlich.
Doch obwohl die Entwicklung seit Jahrzehnten dramatischer wird – und Insektensterben, weniger Vogelarten und geringere Ökosystem-Resilienz immer sichtbarer werden – bleiben die Gegenmaßnahmen weit hinter der wachsenden Bedrohung zurück.
Denn die Bedeutung der biologischen Vielfalt für die Widerstandsfähigkeit des Öko- und damit auch des menschengemachten Wirtschaftssystem wird weiterhin notorisch unterschätzt. Größere Schutzmaßnahmen gegen die Ausbeutung lässt dieses System nicht zu, wie die letzten Konferenzen um den Meeresschutz oder die UN-Biodiversitäts-Gipfel zeigen.
Dabei dokumentiert der Living Planet Report die Verluste seit 1998 – alle zwei Jahre erscheint eine neue Studie. Grundlage der Untersuchung ist der Living Planet Index (LPI) als Maß für die Entwicklung seit 1970. Aktuell basiert er auf Daten zu über 31.000 Beständen von über 5.230 Wirbeltierarten weltweit. Damit kann er einen stichprobenartigen Einblick in den Zustand der geschätzt 8 Millionen Arten auf der Erde geben.
Laut aktuellem Bericht sind Süßwasserarten mit einem durchschnittlichen Rückgang von 83 Prozent aller beobachteten Populationen am stärksten von der Artenkrise betroffen. Erwartbar aufgrund der massiven Entwaldung ist der geographische Hotspot des Artensterbens Süd- und Zentralamerika. Dort sind die untersuchten Tierbestände mit durchschnittlich 94 Prozent besonders stark geschrumpft.
Die Ursachen für den Artenverlust sind laut WWF allesamt menschengemacht. Vor allem die Zerstörung der Lebensräume vieler Tiere und Pflanzen, Umweltverschmutzung sowie die Klimakrise seien die Hauptgründe für die Artenkrise.
Eine neue Chance dazu, das Artensterben zu stoppen, bietet sich auf der Weltnaturkonferenz im Dezember 2022 in Montreal. Dort soll ein neues globales Abkommen zum Erhalt der biologischen Vielfalt verhandelt werden, mit dem Ziel, das Artensterben und den Verlust von Ökosystemen bis 2030 zu stoppen.
Die Wirkung der Klimakrise auf die Artenvielfalt wird sich laut dem Weltklimarat IPCC bis 2100 dramatisch erhöhen. Bei einer globalen Erderhitzung um 1,5 Grad steigt der Anteil der Arten mit hohem Aussterberisiko beispielsweise um vier Prozent. Erhöht sich die Erhitzung um 3 Grad, steigt der Anteil auf 26 Prozent.
Umgekehrt heizt der fortschreitende Verlust an biologischer Vielfalt die Klimakrise weiter an. Brennende Regenwälder, aussterbende Arten und immer größere Monokulturen verringern die Kohlenstoffspeicherung der Ökosysteme. „Wenn wir so weitermachen wie bisher, drohen wir im Kampf gegen die Klimakrise unsere beste Verbündete zu verlieren: die Natur", kommentiert Christoph Heinrich, geschäftsführender Vorstand des WWF Deutschland.
Als potenzielles Opfer der Zwillingskrise nennt der WWF zum Beispiel den afrikanischen Waldelefanten. Laut Living Planet Index sind die Waldelefanten-Bestände in einigen Gebieten bereits um mehr als 90 Prozent zurückgegangen. Mit fatalen Folgen: Ohne Waldelefanten verändert sich die Zusammensetzung des Waldes, sodass dieser deutlich weniger Kohlenstoff speichern kann. Gleichzeitig ist ihre Nahrungsversorgung und damit ihr Gesundheitszustand durch die Klimakrise in Gefahr, dazu kommt der große Wildereidruck.
Besonders gefährdete Tiere im Living Planet Index sind der Westliche Flachlandgorilla (Rückgang von 69 Prozent zwischen 2005 und 2019 im Nki-Nationalpark in Kamerun), der Amazonasdelfin (Rückgang um 65 Prozent zwischen 1994 und 2016 in Brasilien) sowie die Feldlerche (Rückgang von 56 Prozent zwischen 1980 bis 2019 in Europa).
Dass der Naturverlust auch gestoppt werden kann, zeigen hingegen wachsende Bestände von Seeadlern (Zuwachs von einem Revierpaar 1945 auf 57 in 2010 in Schleswig-Holstein), Tigern (Zuwachs um 91 Prozent von 2009 bis 2018 in Nepal) und der Kegelrobbe in der Ostsee (Zuwachs um 139 Prozent zwischen 2013 und 2019).
„Einzelne Erfolgsmeldungen zeigen, dass wir mit mehr Schutzgebieten, einer Umstellung der Landbewirtschaftung und nachhaltigerem Konsum den Verlust der biologischen Vielfalt noch aufhalten können", sagt Heinrich. "Dafür muss sich die Bundesregierung auf der Weltnaturkonferenz für ein Abkommen einsetzen, das den ökologischen Fußabdruck unserer Gesellschaften drastisch verringert, unsere Ökosysteme schützt und dabei in jedem Moment die Beteiligung und die Rechte lokaler Gemeinschaften und indigener Bevölkerungen garantiert.“
Der WWF fordert die Bundesregierung auf, sich in Montreal für ambitionierte Ziele für unsere Natur einzusetzen und die internationale Biodiversitätsfinanzierung Deutschlands bis 2025 auf mindestens zwei Milliarden Euro im Jahr zu erhöhen.
Die drei zentralen Forderungen des Berichts an die Politik sind erstens die nach klimaresistentem Wirtschaften mit Netto-Null-Emissionen und hundert Prozent erneuernaren Energien, zweitens der Stopp der Lebensraumzerstörung und Artenübernutzung und drittens verbindliche Maßnahmen zum Erhalt der biologischen Vielfalt.
Die wichtigsten Bausteine dazu seien:
- Schutzgebiete und ökologische Korridore mit einem entsprechend effektiven Management und mit Einbeziehung indigener und lokaler Bevölkerungsgruppen
- die Reduzierung des Ökologischen Fußabdruckes von Produktion und Konsum weltweit um mindestens die Hälfte
- die Reform und Transformation aller Wirtschaftsbereiche und des Finanzsektors und
- die drastische Steigerung der Biodiversitätsfinanzierung.
Mehr zur Bedeutung – neben der biologischen – im factory-Magazin Vielfalt. Oder im Online-Themenbereich.