Wir müssen reden
Den Rucksack erkennen
Mit dem ökologischen Fußabdruck kann jeder etwas anfangen, der ökologische Rucksack ist jedoch das umfangreichere Bild, mit dem die Tragweite menschlichen Ressourcenverbrauchs beschrieben werden kann. Sein Erfinder Friedrich Schmidt-Bleek gilt als Pionier der Ressourcenkommunikation. 20 Jahre nach Faktor 10 und MIPS ist nun die Diskussion um eine Ressourcenwende in Gang.
Von Joachim Wille
Ein ganz normaler Morgen. Aber dann das. „Mirja wacht auf und legt die 12,5 kg schwere Armband-Uhr um ihr Gelenk, sie schlüpft in ihre 30 kg schweren Jeans, macht sich Kaffee mit ihrer 52 kg schweren Maschine und trinkt aus ihrem 1,5 kg schweren Becher die gewohnte Erfrischung ...“ Die Figur Mirja ist natürlich erfunden, und die kleine Geschichte von ihrem Start in den Tag auch. Die Idee dazu hatte vor ein paar Jahren der finnische Bund für Naturschutz in Helsinki. Aber die ökologischen Rucksäcke, die Mirjas Armbanduhr, die Jeans und die Kaffeemaschine zusätzlich tragen, gibt es wirklich. Nur, dass sie in Mirjas Leben nicht direkt sichtbar sind, weil die Ressourcen, aus denen sie bestehen, vor allem bei Rohstoffgewinnung, Herstellung, Energiebereitstellung und Beseitigung anfallen.
Produkte haben „ökologische Rucksäcke“, die ihr normales Gewicht oft um ein Vielfaches übersteigen. Die Erkenntnis setzt sich immer mehr durch, dass der Rohstoffverbrauch vor allem in den Industriestaaten viel zu hoch ist – und langfristig deutlich vermindert werden muss, um die Tragfähigkeit der Erde nicht zu übersteigen und den Entwicklungsländern Raum für mehr Wohlstand zu geben. Das Bild des „ökologischen-Rucksacks“ und das Konzept einer um den Faktor 10 höheren Ressourceneffizienz, vor gut 20 Jahren geprägt vom Umweltforscher Friedrich Schmidt-Bleek, hat die Diskussion über Nachhaltigkeit wesentlich erweitert. Es ist in Schul- und Lehrmaterial, in Ausstellungen, auf den Homepages von Umweltverbänden, aber auch in der universitären Lehre präsent, wie eine Analyse des Umweltbundesamtes zum Thema Ressourcenschonung im Bildungsbereich gezeigt hat (siehe: www.bilress.de). Und es dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Thema Ressourceneffizienz zunehmend von der Politik aufgegriffen wird.
Mit dem Rucksack-Bild fand "Ressourcen-Papst“ Schmidt-Bleek einen wirksamen Weg, um sein MIPS-Konzept zu popularisieren. Der Umweltforscher, bis zur Pensionierung 1997 Vize-Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, hatte MIPS als Analyse- und Handlungsinstrument für einen modernen Umweltschutz Anfang der 1990er Jahre entwickelt. Mit der Messgröße MIPS (Material-Input pro Serviceeinheit) erarbeiteten Schmidt-Bleek und seine Mitarbeiter ein Instrumentarium, das den Verbrauch von Natur einfach fassbar, berechenbar und vergleichbar machte. Durch MIPS wird ausgedrückt, wie groß die tatsächliche – also auch die verdeckte – Ressourcennutzung für ein Produkt, eine Dienstleistung, einen Haushalt, ein Unternehmen oder auch für eine Stadt, Region oder Nation ist. Lasteten die „ökologischen Rucksäcke“ tatsächlich auf den Schultern des Menschen – man kann sie für jeweils genutzte Produkte etwa auf dem Rucksack-Rechner des Naturschutzbunds Nabu anzeigen lassen –, er würde förmlich erdrückt.
Ein Zehntel muss reichen
Der Physikochemiker Schmidt-Bleek galt als „Vater“ des deutschen Chemikalienrechts, das in den 1980er Jahren im Umweltbundesamt entwickelt worden war. Doch bald erkannte der Experte: Ein Umweltschutz, der sich primär um die Beseitigung und Eindämmung von Schadstoffen kümmert, greift viel zu kurz. Man muss nicht nur die „Nanogramm“ der Schadstoffe angehen, sondern auch die großen Stoffströme, die „Megatonnen“, die in den Wirtschaftskreislauf eingespeist werden: „Wenn am hinteren Ende der Wirtschaft zu viel umweltgefährlicher Abfall und auch zu viele Emissionen herauskommen, dann sollte man vorne weniger Natur in die Wohlstandmaschine hineinstecken“, formulierte er. Sein Leitwort dafür: Dematerialisierung.
Als Vize-Chef des Wuppertal Instituts hatte Schmidt-Bleek eine ideale Plattform, um das Konzept zu entwickeln und bekannt zu machen. 1994 erschien sein Buch über MIPS und Faktor 10: Wieviel Umwelt braucht der Mensch?. Institutspräsident Ernst Ulrich von Weizsäcker erkannte die Bedeutung des Konzepts. Er selbst griff es in seinem Buch-Bestseller Faktor 4 – doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch auf, freilich in einer Art Light-Version, um sie wirtschaftskompatibler zu machen. Schmidt-Bleek selbst beharrte darauf, dass eine radikale Senkung des Ressourcenverbrauchs auf ein Zehntel nötig – und machbar – sei: „Zehn Prozent für die Reichen müssen reichen.“
Auch im Unruhestand warb der Umweltforscher unermüdlich für sein Konzept. Er kämpfte gegen den Tunnelblick in der Umweltdebatte, die sich primär um die Reduktion des CO2-Ausstoßes drehte. Er meldete sich in der öffentlichen Debatte immer wieder zu Wort. Erst durch eine Dematerialisierung in allen Bereichen – Produktion und Konsum, Wirtschaft und Gesellschaft –, welche die Nutzung von Mineralien, fossilen Energien und Biomasse sowie in der Landwirtschaft die Erosion deutlich vermindert, sei auch ein nachhaltiger Klimaschutz erreichbar. Schmidt-Bleek nutzte sein Konzept bereits 1995, um damit eine Anleitung für ein neues Design von „ressourcenleichten“ Produkten und Dienstleistungen zu geben; so entstand zum Beispiel ein an Nachhaltigkeit orientierter „Design-Guide“. Allerdings ging es ihm auch um Veränderungen im Verhalten der Konsumenten. MIPS ist kein reiner Effizienz-Indikator, sondern ebenso an Suffizienz orientiert. Damit lassen sich Konzepte des gemeinsamen Nutzens von Produkten – Sharing-Konzepte, am bekanntesten: Car-Sharing – genauso bewerten wie regionale Kreisläufe, Energie- und Verkehrssysteme oder die Nutzung von Recyclingmaterial.
Die Agenda der Dematerialisierung
Schmidt-Bleck gründete ein eigenes Institut, das „Factor 10 Institute“, und den „International Factor 10 Club“, dem renommierte Wissenschaftler und Ex-Politiker beitraten. Nachfolger wurde der „Factor X International Club“, unter Leitung von Harry Lehmann vom Umweltbundesamt, ein früherer Mitstreiter Schmidt-Bleeks am Wuppertal Institut. 2009 wurde auf Anregung Schmidt-Bleeks das World Resources Forum Davos gegründet, das jährlich wissenschaftliche Konferenzen veranstaltet, zuletzt in Peru. In Deutschland existieren heute zahlreiche Institutionen, die sich um das Thema Ressourceneffizienz kümmern. Schon in den 1990er Jahren griff die Effizienz-Agentur NRW das Konzept auf, inzwischen gibt es – von Bundesministerien initiiert – eine „Deutsche Materialeffizienz-Agentur“ (demea) und ein Zentrum für Ressourceneffizienz beim Verband der Deutschen Ingenieure (VDI). Es wurde ein Netzwerk Ressourceneffizienz (NeRess) gegründet, und speziell im Bildungsbereich das Netzwerk BilRess. Das Umweltbundesamt treibt das Thema voran, unter anderem, indem es regelmäßig ein nationales und ein europäisches Ressourcenforum ausrichtet und eine Ressourcenkommission gebildet hat. Außerdem werden Materialeffizienz-Wettbewerbe und -Preise ausgeschrieben. Es zeigt sich: Das Thema ist auf der Agenda.
Das Wuppertal Institut hat sich der Aufgabe verschrieben, das MIPS-, Faktor- und Ressourceneffizienz-Konzept weiterzuentwickeln. Drei der wichtigsten Protagonisten: Schmidt-Bleeks frühere Mitarbeiter Stefan Bringezu, Christa Liedtke und Jola Welfens, die am Institut eigene Forschungsgruppen oder Projekte leiten. Bringezu und Liedtke lehren inzwischen aber auch an Universitäten, Bringezu als Professor an der Universität Kassel, Liedtke als Gastprofessorin an der Folkwang Universität der Künste in Essen.
Bringezu ist Chef der Forschungsgruppe Stoffströme und Ressourcenmanagement. Der Experte, der auch dem Ressourcenrat des UN-Umweltprogramms (UNEP) angehört, verfeinert und differenziert die Analyse der „ökologischen Rucksäcke“. Als treibende Faktoren für Ressourcenverbrauch hat er vor allem die vermehrte Nutzung von Biomasse etwa als Energiequelle und von Mineralien als Bau- und Industrierohstoff ausgemacht, deren Gewinnung mit immer mehr Aufwand verbunden ist. Bringezu und seine Mitarbeiter erarbeiten Konzepte für ressourceneffiziente Ver- und Entsorgungssysteme und Infrastrukturen, zudem Szenarien für ein nachhaltiges Ressourcenmanagement in einzelnen Branchen wie der Chemie- und Zementindustrie und sogar für ganze Volkswirtschaften. Wie Innovationen zur Erleichterung des „Rucksacks“ angestoßen werden können, spielt dabei eine zentrale Rolle.
Liedtke entwickelt mit ihrer Forschungsgruppe Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren Strategien zur Veränderung von Produktions- und Konsummustern mit dem Langfrist-Ziel Faktor 10. Zielgruppen sind kleine Unternehmen und Mittelständler, aber auch große Unternehmen, die Ressourceneffizienz zunehmend als wichtig erkennen. Außerdem geht es darum auszuloten, wie der Einzelne sowie Familien ihren „ökologischen Rucksack“ durch Verhaltensänderung minimieren können. „Im Nutzerverhalten und dessen Zusammenspiel mit Produkten und Technik sind große Potenziale zu heben“, sagt Liedtke, die auch Vorsitzende der Ressourcenkommission des Umweltbundesamtes ist.
Radikal Ressourcen reduzieren
Schmidt-Bleek könnte zufrieden sein. Seine Ideen haben nicht nur viele andere Wissenschaftler und Institutionen inspiriert, sie finden durchaus Wiederhall in der Wirtschaft und auch in der Politik. Beispiele: Die Bundesregierung hat ein Programm zur Ressourceneffizienz („ProgRess“) beschlossen, die EU-Kommission eine Ressourcen-Roadmap, Japan die Initiative 3R (reduction, reuse, recycle). Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) kündigte unlängst sogar das Ziel an, Deutschland solle die ressourceneffizienteste Volkswirtschaft der Welt werden, beim Rohstoff-Einsatz müsse „radikal gegengesteuert“ werden. Die Bundesregierung macht Ressourceneffizienz erstmals zum zentralen Thema des G7-Gipfels im Juni 2015.
Doch der Rucksack-Erfinder, inzwischen über 80, wird zunehmend ungeduldig. Der Umbau geht ihm viel zu langsam, aber nicht nur das. In seinem aktuellen, vielbeachteten Buch Grüne Lügen startet er auch einen Generalangriff auf die Energiewende, speziell die Fotovoltaik und die Elektromobilität, die den Ressourcenverbrauch sogar steigerten. Das brachte ihm herbe Kritik von anderen Umweltexperten ein, die ihm unter anderem vorwarfen, veraltete Daten zu verwenden. In einer Bewertung allerdings, die aus einem von Schmidt-Bleeks jüngsten Interviews stammt, werden ihm alle Umweltinteressierten zustimmen: „Das krampfhafte Festhalten an der hergebrachten Wirtschaftsweise muss zum Absturz führen.“
Joachim Wille ist freier Journalist und schreibt für Frankfurter Rundschau, klimaretter.info, Kölner Stadt-Anzeiger, Bild der Wissenschaft und andere Publikationen. Für seine langjährige Tätigkeit im Umweltjournalismus wurde er mehrfach ausgezeichnet. 2009 erhielt er den hessischen Journalistenpreis für seinen Artikel „Hessisches Staatstheater“ über das Scheitern der Beinahe-SPD-Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti.
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