Gender

Perspektivenwechsel: Neue Wohlstandsmodelle, Livelihood und Gutes Leben

Es geht um mehr als den herkömmlichen Warenwohlstand. Und es muss auch darum gehen, denn dieser Wohlstand ist unauflöslich an Wachstum gekoppelt, an Naturzerstörung und Expansion, an Zerstörung noch bestehender, auf Subsistenz ausgerichteter Wirtschaftsweisen.

Von Adelheid Biesecker, Christa Wichterich und Uta von Winterfeld

Die Suffizienz hat im Kontext der Post-Wachstumsdebatte immer mehr Anerkennung gewonnen. Gleichwohl hat sie es im Vergleich zu den beiden anderen Zugängen Effizienz und Konsistenz schwer, denn sie enthält eine Kritik an den vorherrschenden Wachstums- und Wohlstandslogiken. Sie macht dabei deutlich, dass der Zwang zum Mehr im entfesselten Wachstum auch deshalb entsteht, weil grundlegende Fragen sozialer Gerechtigkeit ausgeklammert werden. Wenn alles immer mehr wird, haben irgendwann alle genug – es muss nicht umverteilt werden. In der internationalen feministischen Debatte spielt Suffizienz eine signifikante Rolle gerade mit Bezug auf soziale, globale und Geschlechtergerechtigkeit.

Suffizienz, anders gesehen

Ein Perspektivwechsel innerhalb der Suffizienz ist der Vorschlag, sie negativ zu fassen. Sie also nicht mit einem positiven „Sollen“ normativ aufzuladen, sondern sich auf die Zumutungen des „zu viel“ zu konzentrieren und sie als Schutzrecht zu definieren: Niemand soll immer mehr haben wollen müssen. Eine so verstandene Suffizienz fragt nicht, wie viel genug ist (Pflicht zur Suffizienz), sondern sie fragt nach dem, was zu viel ist (Recht auf Suffizienz). Damit kommen auch der effizienzgetriebene Zwang zur Mehrarbeit und der kommerzgetriebene Zwang zum Mehrkonsum in den Blick. Dabei heißt Suffizienz nicht, soziale Einbußen aufgrund der Relativierung des Wachstumsstrebens hinzunehmen. Vielmehr kommen umgekehrt Fragen der Gerechtigkeit und des guten Lebens in den Blick, wenn sie nicht mehr vom Wachstums­imperativ bestimmt sind.

Aus feministischer Perspektive, die den Blick von den gesellschaftlichen und natürlichen Lebensprozessen her auf die Ökonomie richtet und nach Wohlstand im Sinne von gutem Leben fragt, sind als Leitlinien für eine Neubestimmung des Wohlstands darüber hinaus drei Konzepte von besonderem Interesse: der Livelihood-Ansatz, das Konzept der Bestimmung eines guten Lebens mithilfe der menschlichen Fähigkeiten (Fähigkeitenansatz) sowie das Konzept des Buen Vivir.

Der Livelihood-Ansatz entstand, um (Über-)Lebenssicherheit, Wohlstand und Armut anders definieren zu können als durch Geldeinkommen. Basierend auf Analysen gescheiterter Armutsbekämpfungsprogramme in der Entwicklungshilfe in den 1980er Jahre definierten Robert Chambers und Gordon Conway nachhaltige Lebensgrundlagen: „a livelihood comprises the capabilities, assets and activities required for a means of living... while not undermining the natural resource base.“

Kulturelle Vielfalt statt Monokulturen

Im Gegensatz zu Entwicklung als einer Makrostrategie setzt das Livelihood-Konzept bei den lokalen Reproduktionszusammenhängen und beim Mikrokosmos der alltäglichen Überlebenssicherung in der unmittelbaren natürlichen und sozialen Umwelt an und orientiert auf Sicherheit und Erhalt der Existenzgrundlagen, nicht auf Wachstum. Die Dezentralität des Ansatzes beinhaltet, dass er an lokal und regional unterschiedliche Bedingungen anknüpft, biologische und kulturelle Vielfalt erhält statt Monokulturen auf den Feldern und im Denken herzustellen, dass er auf lokales und indigenes, durch Erfahrung erzeugtes Wissen aufbaut und lokale Selbstbestimmungsrechte über Entwicklungspfade zulässt.

In versorgungsorientierten Kreislaufökonomien ist Wohlstandserzeugung abhängig von moralischen, außermarktlichen Prinzipien des Wirtschaftens wie Gegenseitigkeit, Nachbarschaftshilfe und Solidarität. Gemeingüter und Commons mit kollektiven Rechten des Ressourcenzugangs und der Nutzung sind ebenfalls konsti­tutive Elemente von Livelihoods und ein Gegenmodell zur hegemonialen weltmarkt- und konkurrenzvermittelten Entwicklungsstrategie.

Ein Leben zur Gestaltung

Der Fähigkeitenansatz wurde als Ansatz zur Bewertung der Lebensqualität von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelt und liegt dem Human Development Index der UN zugrunde. Die Philosophin Martha Nussbaum, deren zentrales Thema das Gute Leben ist, hat ihn weiter ausformuliert. Gutes Leben wird von ihr verstanden als ein Leben, in dem die Menschen in der Lage sind, ihre Fähigkeiten zur Gestaltung ihres eigenen Lebens zu entwickeln. Diese Fähigkeiten sind zugleich Ansprüche der Menschen auf Möglichkeiten zum Tätigsein. Es gilt, politisch dafür Verwirklichungschancen und vielfältige Möglichkeitsräume zu schaffen.

Dieses gute Leben ist gekennzeichnet durch Anerkennung, Selbständigkeit, Sicherheit und Freiheit. Seine je konkrete Ausgestaltung ist kulturell geprägt und daher vielfältig unterschiedlich und muss im gemeinsamen Diskurs immer wieder neu bestimmt und durch gesellschaftliche Regelungen ermöglicht werden. In diesen Diskursen geht es auch um die Überprüfung der Bedürfnisse und der Art ihrer Befriedigung. Es geht auch und gerade um die gemeinsame Bestimmung von Suffizienz. Gesellschaftliche Wohlfahrt in diesem Sinne ist nicht allein monetär bestimmt, ist nicht eindimensional kalkulierbar, sondern kann nur mehrdimensional und vielfältig entwickelt werden.

Im Unterschied zu dem von individuellen Menschenrechten ausgehenden Fähigkeitenansatz beruht das Paradigma des buen vivir bei den Indigenen in Lateinamerika auf der sozialen Gemeinschaft und auf einem anderen Naturverhältnis. In Bolivien und Ecuador ist das buen vivir-Konzept in die Verfassung eingegangen, um den Anspruch auf autochthone, kapitalismus- und kolonialismuskritische Entwicklungswege, aber auch auf eigene indigene Rechtssysteme zu verankern. Damit wird zugleich eine Pluralität von Kulturen, Gesellschaftsformen und Entwicklungswegen anerkannt. Explizit werden alle produktiven und reproduktiven Arbeitsformen wertgeschätzt.

Es geht um mehr ...

All drei Konzepte stellen nicht den Begriff Wohlstand, sondern den des guten Lebens in den Mittelpunkt. Und sie machen deutlich: Es geht nicht um die Entwicklung eines einzelnen Indikators, mit dessen Hilfe die Verbesserung der Lebensqualität – monetär – gemessen wird. Vielmehr geht es auch hier um Vielfalt. Es gilt, in gesellschaftlichen Diskursprozessen eine Mehrzahl von Kriterien zu bestimmen, anhand derer ein gutes Leben für alle, also ohne neue Exklusionen und Externalisierungen, im Einklang mit der Natur entwickelt werden kann.

Dabei geht es nicht einfach um Internalisierung, Inklusion und Aufwertung innerhalb und in die wachstums- und gewinngetriebene Warenökonomie hinein. Gingen z. B. die ökologischen Kosten in die Preise ein, würden sich diese drastisch erhöhen: für Arme würde vieles unerschwinglich, für Reiche macht es keinen großen Unterschied. Zwar wäre die Internalisierung von Kosten eine ökologisch gerechtere Preisbildung, aber ohne gleichzeitige Transformation sozialer Ungleichheitsstrukturen würde sie in ein neues Gerechtigkeitsdilemma führen. Wenn die Sorgearbeit bezahlt wird, ändert dies nicht die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung. Auch die Inklusion armer Frauen in den Finanzmarkt durch die Vergabe von Kleinkrediten verändert allein nicht die Armutsstrukturen. Jede Ein-Punkt-Maßnahme muss zwangsläufig zu kurz greifen. Genauso wie jeder Einzelindikator keine Aussage über das Ganze machen kann. Vielmehr ist jeder einzelne Schritt nur als strategischer Mosaikstein für eine sozial-ökologische Transformation zu sehen.

Aus feministischer Perspektive geht es somit beim Nachdenken über „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ nicht um die Entwicklung „passenderer“ Indikatoren, sondern um das Einschlagen und Stärken eines Entwicklungsweges, der weg führt vom markt- und geldgetriebenen Wachstumszwang – hin zu einer Gesellschaft, deren Lebensweisen und Wirtschaftsprozesse nachhaltig ausgerichtet sind und an der alle teilhaben und teilnehmen können. Nur über diese Teilhabe und Teilnahme kann der sozialen Desintegration unserer Gesellschaft begegnet werden – nur darüber lassen sich Demokratieentleerung und Orientierungslosigkeit auflösen. 

Dr. Adelheid Biesecker ist emeritierte Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen. Dr. Christa Wichterich ist Soziologin und arbeitet zu Globalisierung und Geschlechter, Frauenbewegungen und Internationaler Frauenpolitik. In factory Teilhabe hatte sie die Kontra-Position in Mikrokredite helfen. Oder nicht? Dr. Uta von Winterfeld ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Projektleiterin in der Forschungsgruppe Zukünftige Energie- und Mobilitätsstrukturen am Wuppertal Institut. Der obige Text ist ein leicht veränderter Auszug aus dem Hintergrundpapier Feministische Perspektiven zum Themenbereich Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, 2012.

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