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30-Hektar-Ziel: Flächenverbrauch für Wohnen und Verkehr liegt bei 66 Hektar pro Tag

94 Fußballfelder, so viel Fläche wird jeden Tag in Deutschland verbraucht, um Gebäude und Verkehrswege neu zu bauen. Bis 2020 sollte der Flächenverbrauch eigentlich auf 30 Hektar sinken. Die Bundesregierung hat das Ziel auf 2030 verschoben. Ab dem heutigen 30-Hektar-Tag müssten in Deutschland die Bagger stillstehen, fordern Naturschützer. Dass das notwendig ist, zeit auch eine Immobilienstudie der Deutschen Wirtschaft: Auf dem Land wird am Bedarf vorbei gebaut – in der Stadt zu wenig.

Heute ist wieder so ein Tag: Der 30-Hektar-Tag, nach dem die eigentlich verfügbaren Flächen für den Bau von Wohnungen und Verkehrsinfrastruktur verbraucht sind, wenn man das 30-Hektar-Ziel eines geringeren Flächenverbrauchs einhalten wollte. Denn damit wird Deutschland ein weiteres Ziel im Umwelt- und Klimaschutz nicht erreichen: Auf 30 Hektar sollte der immense Flächenverbrauch im Autoland bis 2020 sinken. Doch immer noch werden durchschnittlich 66 Hektar pro Tag verbraucht – das entspricht etwa einer Größe von 94 Fußballfeldern. Selbst das neue Ziel der Bundesregierung, bis 2030 den täglichen Flächenverbrauch auf 30 Hektar pro Tag zu reduzieren, liegt in weiter Ferne. Laut 30-Hektar-Ziel wäre die verfügbare Fläche für das gesamte Jahr heute aufgebraucht und ab sofort müssten also in Deutschland die Bagger still stehen, fordert der Naturschutzbund Deutschland daher in einer Meldung.

Dass das Ziel nicht zu halten ist, gab Anfang des Jahres auch die Bundesregierung zu. Mit der Neuauflage ihrer Nachhaltigkeitsstrategie verschob sie das 30-Hektar-Ziel für das Jahr 2020 auf das Jahr 2030. Zwar soll die Inanspruchnahme zusätzlicher Flächen auf „unter 30 Hektar pro Tag“ begrenzt werden. „Die nebulöse und wenig konkrete Formulierung  ‚30-Hektar minus X‘ enttäuscht vor allem, wenn nicht klar ist, wie groß das X ist. Statt ambitionierte Ziele zu setzen und diese zu qualifizieren, verschiebt die Bundesregierung lediglich das alte, nicht erreichte Ziel um weitere zehn Jahre“, sagt NABU-Präsident Olaf Tschimpke. Dass sich das Bundesumweltministerium in seinem Integrierten Umweltprogramm als Zielmarke gesetzt hat, den Flächenverbrauch bis 2030 auf 20 Hektar pro Tag zu senken, sei da nur ein schwacher Trost. Es zeige, dass die Bundesregierung hier nicht in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen und die Ministerien für Wirtschaft und Verkehr den Umweltschutz weiter hinten an stellen.

Flächenverbrauch mit Folgen

Das Dumme ist, dass Flächenverbrauch nicht irgendeine dehnbare Größe ist. Denn mit steigendem Flächenverbrauch und zunehmender Versiegelung verliert der Boden an Fruchtbarkeit und Wasserdurchlässigkeit. Zu den Folgen zählen der Verlust der Bodenfauna, örtliche Überschwemmungen bei starken Regenfällen, niedrige Grundwasservorräte sowie städtische Wärmeinseln durch fehlende Verdunstungskälte. Gerade für die Folgen des Klimawandels ist ein weiterer Flächenverbrauch fatal. Eigentlich ist allen klar, dass mit unbebauten Flächen und unversiegelten Böden als endliche Ressource sparsam umzugehen ist. Der benötigte Wohnraum muss primär im Bestand durch Nachverdichtung wie den Ausbau von Dachgeschossen und das Schließen von Baulücken, Umnutzung von Gewerbegebäuden sowie intelligente Nutzungskonzepte erfolgen.

Fatal ist außerdem, dass das 30-Hektar-Ziel und eine flächensparende Siedlungsentwicklung nicht zuletzt durch die Neufassung des Baugesetzbuchs konterkariert wurde. Dort wurden für Wohnungsbau auf landwirtschaftlichen und unbebauten Flächen am Ortsrand erhebliche Ausnahmeregelungen und Erleichterungen geschaffen – das Argument waren Wohnungsneubauten für Geflüchtete. Durch die Einbeziehung von Außenbereichsflächen in das beschleunigte Bebauungsplanverfahren kann nunmehr generell auf eine Prüfung der Umweltauswirkungen der geplanten Bebauung sowie auf Ausgleichsmaßnahmen für Eingriffe in Natur und Landschaft verzichtet werden.

„Diese Ausnahmeregelungen gelten zwar nur bis Ende des Jahres 2019, entfalten aber eine verheerende Signalwirkung und sind ein Schlag ins Gesicht aller, die sich für eine flächensparende und nachhaltige Siedlungsentwicklung einsetzen“, so Tschimpke weiter. Obwohl der Flächenverbrauch von etwa 120 Hektar pro Tag um die Jahrtausendwende mittlerweile nahezu halbiert wurde, seien zusätzliche Anstrengungen unverzichtbar, um den Flächenverbrauch möglichst gering zu halten. Langfristig müsse eine Flächenkreislaufwirtschaft angestrebt werden, deren Netto-Flächenverbrauch Null betrage. Das Bundesumweltministerium nennt hierfür das Jahr 2050.

„Notwendig sind aber kurzfristigere und vor allem auch kleinräumliche Flächensparziele der Länder und Kommunen“, meint Siedlungsentwicklungsexperte Henry Wilke. Dabei dürfe das Bauen am Ortsrand nach wie vor nur die absolute Ausnahme sein. Die doppelte Innenentwicklung, also das Bauen im Bestand, sowie die Sicherung und Aufwertung von innerstädtischen Grünflächen, müsse sich zum Regelfall entwickeln.

Lösungen liegen vor

Bereits Anfang des Jahres hatte das Umweltbundesamt darauf hingewiesen, wie der Handel mit Flächenzertifikaten in einem Modellversuch mit 87 Kommunen den Flächenverbrauch effektiv verringert. Gleichzeitig sorgt der Flächenhandel dafür, dass Kommunen unwirtschaftliche Planungen vermeiden, sie sich statt nach außen mehr im Inneren entwickeln und die vorhandenen Flächen effektiver nutzen. Speziell Kommunen in strukturschwachen Regionen mit starker Abwanderung profitierten sogar von den Geldflüssen im Zertifikatehandel, ohne auf die notwendige Gemeindeentwicklung verzichten zu müssen.

Dass so wie bisher auch am Bedarf vorbei gebaut wird, zeigt auch eine neue Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft IW in Köln. Während in allen Großstädten Wohnungen Mangelware seien, werden in den ländlichen Regionen deutlich zu viele Einfamilienhäuser gebaut, zeig die Baubedarfsanalyse für den Zeitraum 2011 bis 2015.

So sind offenbar im Zeitraum 2011 und 2015 allein in den sieben größten Städten in Deutschland nur 32 Prozent der benötigten Wohnungen auch gebaut worden – insgesamt allein in diesen Städten 60.000 Wohnungen zu wenig. Besonders gravierend ist der Mangel an kleinen Wohnungen, von den benötigten Zweiraumwohnungen wurde nur ein Fünftel gebaut. Dieser Mangel wird sich 2016 weiter vergrößert haben, denn die entsprechenden Fertigstellungen sind deutschlandweit nur moderat gestiegen, folgern die Kölner Wissenschaftler.

Bauen am Bedarf vorbei

In vielen ländlichen Kreisen ist dagegen deutlich mehr gebaut worden als nötig gewesen wäre. Im Landkreis Emsland sind etwa zwischen 2011 und 2015 mehr als 1.060 Wohnungen mehr entstanden, als auf Basis der demografischen Entwicklung und der Leerstände zu erwarten gewesen wäre. Zu rund 80 Prozent handelt es sich dabei um große Wohnungen beziehungsweise Einfamilienhäuser. Der überflüssige Bauboom trifft nicht nur auf den Norden zu, auch in Bayern, in der Eifel oder in Hessen sind es ähnlich aus. So sind es im Landkreis Steinfurt (plus 705 Wohnungen) oder im Landkreis Vorpommern-Greifswald (plus 660 Wohnungen) mehr als benötigt. Als Extrembeispiel nennt der Spiegel den Landkreis Waldeck-Frankenberg, nördlich von Marburg: "Dort wären nach IW-Einschätzung lediglich sieben neue Wohnungen notwendig gewesen. Gebaut wurden jedoch fast 200, was laut Studie 2764 Prozent des Bedarfs entspricht."

Insgesamt sind in den ländlichen Kreisen 20 Prozent mehr Wohnungen gebaut worden als benötigt werden. Bei den Einfamilienhäusern sind es sogar mehr als doppelt so viele.

Die Ursachen für diese Überbauung des ländlichen Raums seien vielfältig, so die IW-Experten. Sehr stark wirken wohl die Niedrigzinsen, welche die Finanzierung günstiger und damit den Kauf einer Immobilie attraktiver machen. Damit ist auch die Erschwinglichkeit von großen Einfamilienhäusern in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wenngleich die Baukosten in der Vergangenheit ebenfalls stetig angezogen sind, wirkt der Zinseffekt der letzten Jahre deutlich stärker auf die Gesamtkosten beim Kauf eines Hauses. Hinzu kommt, dass in ländlichen Räumen Bauland reichlich vorhanden ist. Während in den Großstädten verfügbare Grundstücke den entscheidenden Flaschenhals darstellen, versuchen in vielen ländlichen Regionen Bürgermeister nach wie vor durch die großzügige Ausweisung von Bauland neue Einwohner anzuziehen. Dies gelingt jedoch kaum, da gerade junge Menschen aufgrund besserer Ausbildungsmöglichkeiten, besserer Infrastruktur und vor allem der besseren Arbeitsmarktchancen in die Städte ziehen. 

Angesichts der günstigen Finanzierungen werden im ländlichen Raum aber Neubauten gegenüber Altbauten bevorzugt. Damit entstehen neue Leerstände, da die Bevölkerung insgesamt im ländlichen Raum schrumpft, und vor allem veröden zunehmend die Dorfzentren. Durch die Zersiedlung mit neuen Baugebieten wird die Infrastruktur nicht effizient genutzt, was die Kosten für die Kommunen weiter treibt. Auch die Attraktivität der Kommunen sinkt weiter, wenn das Gebiet zersiedelt ist und allenthalben Gebäude leerstehend sind und verfallen.

Nach innen statt nach außen

Um zu verhindern, dass weitere Leerstände entstehen, empfehlen die Wissenschaftler den Kommunen mit ausufernder Bautätigkeit folgende Maßnahmen: Keine Ausweisung neuer Bauflächen, Neubau nur bei Abbau von Leerstand (wie erfolgreich in den Niederlanden im Büromarkt erprobt) und Aufwertung der Bestände durch Förderung der Innenentwicklung, um die Zentren attraktiver zu gestalten.

Weil sich im Zuge der starken Zuwanderung in den letzten Jahren die demografische Perspektive Deutschlands wieder verschoben hat, wächst Deutschland insgesamt wieder. Allerdings konzentriert sich die Entwicklung auf einige Ballungsräume, in vielen ländlichen Regionen oder auch in Regionen mit schwieriger wirtschaftlicher Perspektive wird die Bevölkerung weiter schrumpfen. Daher bleibt die Vermeidung von Leerständen eine wichtige gesellschaftliche Herausforderung – vor allem vor dem Hintergrund des klimaschädlichen Ressourcenverbrauchs.

Genug Wohnraum für alle

Immerhin hat Bedarfsfeld Bauen mit 35 Prozent den größten Anteil am privaten Ressourcenverbrauch vor Freizeit / Mobiliät mit 28 Prozent und Ernährung mit 26 Prozent rechneten die Wissenschaftler*innen des Wuppertal Instituts anhand des ökologischen Rucksacks aus. Sie zeigen, dass der Ressourcenverbrauch pro Kopf mit der Haushaltsgröße sinkt, aber mit dem Alter und mit dem Einkommen steigt. Dabei seien die wichtigsten Faktoren für ressourcenleichtes Konsumieren erstens das Leben ohne Auto und eine transportextensive Freizeitgestaltung. Vor allem sei das Leben in Mehrfamilien- statt in Einfamilienhäusern wesentlich ressourcenleichter – vor allem wegen der niedrigern durchschnittlichen Pro-Kopf-Wohnfläche und der geringeren Ausstattung mit Haushaltsgütern. "Verbietet das Bauen", forderte auch Daniel Fuhrhop deswegen mit seinem vielbeachteten Buch. Denn eigentlich ist bereits genug Wohnraum für alle da.

"In der Summe hätten wir eigentlich genug Wohnraum in Deutschland - wenn er an der richtigen Stelle wäre", sagt Stephan Kippes, Marktforschungsleiter beim Immobilienverband Deutschland Süd in München dem Spiegel. Laut einer Schätzung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung standen 2016 in ländlichen Regionen Deutschlands fast zwei Millionen Wohnungen leer.

Mehr dazu, wie sich ressourcenleichtes Leben inklusive Wohnen und Mobilität umsetzen ließe, im factory-Magazin Utopien oder im Beitrag Ressourcenleichte Utopien online.

Grafiken: IW Köln

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