Utopien

Ressourcenleichte Utopien

Konsum und Lebensstil tragen erheblich zu Ressourcen- und Umweltverbrauch bei. Ressourcenleichte Lebensmodelle scheinen zur konsumorientierten Marktwirtschaft nicht zu passen – eine Ökodiktatur will jedoch auch niemand. Wie lässt sich die Vision einer ressourcenleichten Gesellschaft erreichen – und mit welchen Leitbildern kann man sie erzählen?

Von Holger Berg und Christa Liedtke

Eigentlich wissen die Menschen, dass die planetarischen Rohstoffe knapp sind und tendenziell knapper werden. Ebenso ist den meisten bewusst, dass der Verbrauch von Ressourcen unmittelbar auf den Umweltverbrauch, die Wirtschaftsleistung und auch die individuelle und soziale Lebensqualität wirkt – sowohl qualitativ wie quantitativ. Zum Verständnis der Mengen des Verbrauchs gibts es mittlerweile viele Bilder: Wie groß der alltägliche Ressourcenverbrauch ist, zeigt zum Beispiel der ökologische Rucksack. Sein Gewicht ermitteln die Wissenschaftler am Wuppertal Institut nach dem von Friedrich Schmidt-Bleek entwickelten Prinzip der Materialintensität pro Serviceeinheit (MIPS) (siehe auch Den Rucksack erkennen im factory-Magazin Wir müssen reden). Ein anderes Bild ist das der 1,6 Planeten, die die Menschheit inzwischen eigentlich benötigt oder das des Earth-Overshoot-Day, nach dem die nachwachsenden Ressourcen verbraucht sind und die Welt von ihren nicht-nachwachsenden Reserven lebt.

Dennoch führen dieses Wissen und derartige Bilder nicht schnell genug zu einem Wandel der ressourcenintensiven Praktiken, um den ruinösen Naturverbrauch und den Klimawandel zu begrenzen. Hier kommen die Utopien ins Spiel – und ihre direkten Verwandten, die Eutopien. Schließlich kennzeichnen Utopien als „Nicht-Orte“ (siehe Seien wir realistisch: Denken wir utopisch!) Vorstellungen und Narrative gesellschaftlicher und staatlicher Ordnungen, die (noch) nicht existieren und sich vom Gegenwärtigen lösen. Eutopien sind in gleicher Richtung Vorstellungen möglicher guter – also positiver – Ordnungen, während dystopische Erzählungen negativ enden. Utopien nehmen – so definiert sie der Historiker Andreas Heyer – aktuelle Missstände auf und stellen ihnen (positive) Alternativen gegenüber. Wie der Utopienforscher Richard Saage sieht er sie als zentrale Elemente der abendländischen Kultur. Sie ermöglichen, gegebene Rahmenbedingungen zu hinterfragen und auch einer größeren Breite der Gesellschaft attraktive neue Narrative zu präsentieren. So waren Utopien zentrale Beweggründe für die politische Entwicklung Europas und des Westens – beispielsweise in Form von Morus’ Utopia oder des American Dream. Mit den Ergebnissen neoliberalen Wirtschaftens lässt sich dagegen keine nachhaltige Utopie verbinden. Insofern ist es nur konsequent: Will man heutigen nicht-nachhaltigen Praktiken und Konzepten in Wirtschaft und Gesellschaft neue gegenüberstellen, benötigt man dazu auch überzeugende Erzählungen. Ressourcenleichtigkeit als Ziel nachhaltigen Lebens und nachhaltiger Gesellschaften könnte die Grundlage eines solches Narrativs bilden.

Im Korridor der Möglichkeiten

Grundlegendes Ziel ressourcenleichten Lebens ist, dass die Menschen die Grenzen des ihnen zur Verfügung stehenden Umweltraumes einhalten – sowohl die Ober- als auch die Untergrenze. Nur dieser Korridor bildet den Möglichkeitsraum nachhaltigen Lebens, außerhalb bedeutet nicht-nachhaltig, nicht zukunftsfähig. Ressourcenproduktion und -konsum dürfen die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit nicht überschreiten. Wie Michael Lettenmeier Lettenmeier, Holger Rohn und Christa Liedtke in einer Studie zu Haushaltsverbräuchen ermittelten, ist diese durch privaten Konsum in der entwickelten Welt bei einem Ressourcenverbrauch von acht Tonnen (TMC = Total Material Consumption) pro Kopf und Jahr erreicht. Der Pro-Kopf-Verbrauch der Haushalte liegt zurzeit in Finnland bei 40, in Deutschland bei 30 Tonnen. Das zeigt, wie weit wir von einem solchen System noch entfernt sind.

Eine ressourcenleichte Gesellschaft ist daher eine dematerialisierte Gesellschaft, die durch alternative Lösungen wie Produkt-Dienstleistungssysteme eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs auf ein verträgliches Maß erreicht. Inzwischen ist einiges zu den technischen und materiellen Voraussetzungen bekannt, die ein solches ressourcenschonendes Leben ermöglichen. Dazu zählen besonders die Bedeutung des Designs und die Übergänge von Produkt-Lösungen zu Produkt-Dienstleistungssystemen. Selbstverständlich gibt es auch nach unten Grenzen, also einen definierten Mindest-Ressourcenbedarf. Sie liegen dort, wo das Existenzminimum, die Menschenwürde und die unveräußerlichen Menschenrechte unmittelbar gefährdet sind. Die Vereinten Nationen (UN), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die internationale Arbeitsorganisation (ILO) sprechen hier vom „social protection floor“.

Technisches bzw. wissenschaftliches Wissen reichen aber für eine solch grundlegende Transformation nicht aus. Eine Umsetzung benötigt vor allem auch gesellschaftliche Akzeptanz. Keine Gesellschaft wird ohne Druck und Not Veränderungen umsetzen, die sie nicht versteht und deren Notwendigkeit und Folgen sie nicht absehen kann. Für die Entwicklung dieses notwendigen Verständnisses aber brauchen wir auch Visionen für die gesellschaftliche Realisierung und die entsprechenden Optionen einer ressourcenleichten Gesellschaft. Nötig sind Leitbilder einer ressourcenleichten Gesellschaft, verstanden als neue Möglichkeiten für eine positive gesellschaftliche Transformation. Solche Fiktionen (siehe Inseln gegen den Strom) sind bis zu einem gewissen Grad zunächst Utopien – im oben dargestellten Sinne. Sie stellen dem aktuellen Zustand eine positive Alternative gegenüber. Ob sie utopisch bleiben ist eine Frage der Handelnden und der sich real herausstellenden Möglichkeiten. Eine Gesellschaft, die über derartige Narrative verfügt, erhält damit gleichzeitig Vorstellungen und Ziele für eine Entwicklung, nach der sie streben kann. Auch wenn vielleicht keine dieser Projektionen und Szenarien jemals in Gänze wahr werden, dienen sie dazu, eine „gute“ Zukunft im Diskurs vorstellbar zu machen. Sie ermöglichen und bereiten den Raum für Diskussion, Kompromisse, Konsens und Gestaltung, aus dem sich eine zukunftsfähige Gesellschaft entwickeln kann. Somit gewinnen die Akteure einer Gesellschaft in jedem Fall, wenn sie in der Lage sind, eine Vielzahl von Utopien als Möglichkeitsraum zu entwickeln, diese zu rekombinieren und aus ihnen zu wählen.

Ziel dieser Leitbilder sollte es daher sein, Möglichkeiten zukünftigen Zusammenlebens innerhalb der Grenzen der Tragfähigkeit aufzuzeigen und dabei emotionale und rationale Gesichtspunkte anzusprechen. Dazu gehören Vorstellungen einer neuen, guten Lebensqualität wie auch die Beachtung neuer Möglichkeiten über gegebene Trends hinaus. Hier zeigt sich die Doppelbedeutung der Ressourcenleichtigkeit: Sie muss nicht nur Ressourcen schonen, sondern auch Lebensqualität bieten – sie muss leicht zu leben sein. 

Fünf Wege zum ressourcenleichten Leben

Im Projekt "Erfolgsbedingungen für Systemsprünge und Leitbilder einer ressourcenleichten Gesellschaft" haben das Wuppertal Institut, Z_punkt – The Foresight Company und sociodimensions im Auftrag des Bundesumweltministeriums sowie des Umweltbundesamtes in Workshops mit Pionieren und Experten fünf solcher Leitbilder entwickelt. Ihre Inhalte entsprechen zwar nicht immer den Überzeugungen und Ansichten aller Erstellenden. Ziel war es aber, eine Vielfalt verschiedener Lösungsansätze zu entwickeln, ohne sich – ganz im Sinne der Utopie – vollständig vom Hier und Jetzt bestimmen lassen zu müssen. Es handelt sich um Leitbilder, die spezifisch die Bundesrepublik Deutschland behandeln und einen Zeitrahmen von etwa zwanzig Jahren in der Zukunft adressieren. Dass auch solche Leitbilder der Plausibilität bedürfen, wurde dabei berücksichtigt – und spätere Schritte im Projekt sollen dafür sorgen, dass es durch Einbindung von Stakeholdern, Fokusgruppen und einer Befragung einen Abgleich mit dem Hier und Jetzt gibt. Im Gegensatz zu „reinen“ Utopien werden dabei aber auch Unterschiede deutlich. Die entwickelten ressourcenleichten Visionen sind zeitgebunden und konkret. Sie wollen Realität deutlich direkter anleiten, als „nur“ Alternativen aufzuzeigen, insofern wollen sie auch plausibel und erreichbar sein. Allerdings ist durch die genannte Bandbreite auch deutlich, dass nicht alle Inhalte Realität werden können und nicht für jeden Menschen jedes Leitbild gleich attraktiv ist. 

Fünf Leitbilder sind also für die Bundesrepublik Deutschland entstanden, die bis zum Jahr 2030 bei entsprechenden Rahmensetzungen Realität werden könnten: 

Genossenschaftliche Regionalität:
Kooperation, Gemeinwohlorientierung und Fairness – die Grundideen von Genossenschaften – haben sich zu tragenden Säulen von Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt. Produktion und Konsum sind stark regionalisiert, ausgelöst durch höhere Abgaben für Transport und Mobilität; bei wirtschaftlichen Entscheidungen stehen Gemeinwohl und Natur im Vordergrund. Konsumenten setzen häufig auf „Nutzen statt Besitzen“, Bürger erwarten eine maximale Einbeziehung in politische Entscheidungen und kommunale Gestaltung.

Wirtschaftsfreundliche Ökologisierung:
Eine konsequent auf Ressourcenschonung ausgerichtete Green Economy, getragen von einer hohen technologischen Innovationsdynamik – das ist die Grundlage dieser Gesellschaft. Das politische Vorhaben der Energiewende wurde zur Ressourcenwende. Auf Konsumentenseite dominiert ein an Genuss und Qualität orientierter Lebensstil, der Hersteller motiviert, Produkte hochwertig, langlebig und vor allem ressourcenschonend zu gestalten.

Verordnete Mäßigung:
Der wachsende Wunsch nach Orientierung im „Nachhaltigkeitsdschungel“ hat zur Einführung eines für jeden gleichen BürgerRessourcenBudgets (BRB) geführt, welches den Bürgern so viele Ressourcen zur Verfügung stellt, wie es für die Umwelt langfristig tragbar ist. Bei Herstellern und Dienstleistern entsteht so ein intensiver Innovationswettbewerb um einen möglichst niedrigen Ressourcenverbrauch; Bürgerinnen und Bürger erweitern ihr Konsumverhalten um vielfältige Strategien, mit denen sie ihr Budget „strecken“ können, wie durch Tauschen, Teilen und Wiederverwerten. Die Beteiligung an politischen Prozessen ist relativ niedrig, stattdessen wird auf die Entscheidungsfähigkeit der politischen Führung vertraut.

Freiwillige Genügsamkeit:
Weite Teile der Gesellschaft üben sich in bewusster und freiwilliger Konsumvereinfachung und Konsumverzicht. Ressourcenverbrauch wird stärker besteuert, menschliche Arbeitsleistung hingegen weniger. Diese zusätzlichen Einnahmen des Staatshaushalts finanzieren ein bedingungsloses „Ökologisches Grundeinkommen“. In der Folge verfügen die Bürger über mehr Flexibilität für Aktivitäten jenseits einer Erwerbsarbeit. Bürger, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmer nehmen als proaktive Gestalter einer zukunftsfähigen, ressourcenleichten Gesellschaft und Wirtschaft intensiv an politischen Entscheidungsprozessen teil.

Aufgeklärter Globalismus:
Im Zuge einer post-modernen Aufklärungswelle werden wesentliche Teile von Gesellschaft und Wirtschaft dematerialisiert. Die industrielle Basis in Deutschland wird zurückgebaut, der Wissensstandort Deutschland aufgewertet. Immer weniger Waren werden in Deutschland produziert, gleichzeitig unterliegen die Importe strengen (Umwelt-)Auflagen. Postmaterieller Konsum verlagert die Nachfrage auf intelligente, ressourcen- und umweltschonende Produkte, und Status basiert auf Sinnstiftung und Selbstbestimmung. Politische Prozesse werden von aufgeklärten Bürgern selbstbewusst mitgestaltet.

Mögen die Verhandlungen beginnen

Keines der Leitbilder erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Absolutheit. Einige Leser der Szenarien können sich für Ideen begeistern, die anderen vollkommen fremd sind. So hat sich gezeigt, dass beispielsweise die Vorstellung des ökologischen Grundeinkommens stark polarisiert, nicht nur unter den Befragten, sondern auch unter den Experten und den Pionieren, die dieses Instrument vorgeschlagen haben. Dennoch ist es wichtig, sich über solche Ansätze auszutauschen, sie zu diskutieren und auch gegebenenfalls zu verändern oder zu verwerfen, wenn eine Ablehnung aus guten Gründen erfolgen muss. Die ressourcenleichten, konkreten Utopien stellen in diesem Sinne eine Verhandlungsgrundlage für die Zukunft dar. Sie helfen, sich zu orientieren, sei es durch Bejahen oder Verneinen, durch Akzeptanz oder Ablehnung.

Ihre Behandlung im gesellschaftlichen Diskurs kann so neue Freiräume und Vorstellungen ermöglichen und damit neue Wege aufzeigen. Ihre spätere Umsetzung und die Transformation zur ressourcenleichten Gesellschaft werden nicht ohne Konflikte und Verlierer möglich sein. Auch werden sich vielfältige Kompromisse oder Kombinationen zwischen jetzt einzeln oder getrennt vorliegenden Ansätzen als notwendig oder vorteilhaft erweisen. Hier muss sich zeigen, ob und welches Leitbild oder welche Kombination tatsächlich eine Acht-Tonnen-Gesellschaft zu realisieren vermag. Diese kann nur dann entstehen, wenn verhandelbare Leitbilder für eine ressourcenleichte Gesellschaft existieren. In diesem Sinne ist Utopie-Entwicklung Voraussetzung für erfolgreiche Transformation.

Dr. Holger Berg ist Leiter des Projekts für eine ressourcenleichte Gesellschaft in der Forschungsgruppe Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren am Wuppertal Institut. Prof. Dr. Christa Liedtke leitet diese Gruppe.

 

 

Mehr Beiträge zum Themenspektrum Utopien, ihrer Entwicklung und Umsetzung, ihren Beispielen konkreter Realisierung, ihrer Notwendigkeit für Gesellschaften und Wissenschaften, ihren Erzählformen und ihrer Ausgestaltung finden Sie im factory-Magazin Utopien. Das PDF-Magazin lässt sich kostenlos laden. Es ist so gestaltet, dass es besonders gut Tablet-Computern und Bildschirmen zu lesen ist – natürlich lässt es sich auch ausdrucken. Es enthält sämtliche Beiträge, Fotos und Illustrationen sowie zusätzliche Zahlen, Zitate und eine Wordcloud – während online zunächst nur wenige Beiträge verfügbar sind.

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