Utopien

Auf dem Weg zur Möglichkeitswissenschaft

Wissenschaft und Utopie scheinen auf den ersten Blick so gar nicht zusammenzupassen. Steht „Utopie“ doch für das Kontrafaktische, für das Irreale. Wissenschaft holt uns dagegen auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein zweiter Blick offenbart, wie stark Wissenschaft und Utopie aufeinander bezogen sind und sich ein Aufbruch in eine utopische Wissenschaft lohnt.

Von Uwe Schneidewind

 

Wissenschaft strebt nach Wahrheit. Doch wo der Kern der Wahrheit begraben liegt, darüber wird seit Jahrhunderten philosophisch und erkenntnistheoretisch gestritten. Liegt die Wahrheit in der Welt da draußen, also in einer von unserer Wahrnehmung unabhängigen Wirklichkeit? Und sind wir als Subjekte mit unseren Gedanken und Wahrnehmungen selber nichts anderes als ein Ergebnis objektiver biologischer, chemischer und physikalischer Prozesse? Oder liegt die Wahrheit in uns – weil letztlich alles immer nur unsere subjektive Wahrnehmung ist? Ist die eigentliche Wahrheit die Kraft unserer Vorstellungen, unserer Ästhetik, unserer Literatur und Musik?

Dieser Konflikt zwischen Objektivismus und Subjektivismus durchzieht die Wissenschaft und ihre Disziplinen. Naturwissenschaften auf der einen, Geisteswissenschaften auf der anderen Seite: Beide erschließen den Raum der Wirklichkeit und der Wahrheit – außerhalb und innerhalb von uns.

Was bleibt, ist eine letztlich unüberwindbare und produktive Dialektik, auch wenn gerade in den letzten Jahrzehnten naturwissenschaftlich-reduktionistische Ansätze wieder überhand genommen zu haben scheinen. „Utopie“ steht in diesem Spannungsverhältnis für die Wahrheit unserer Vorstellungsmöglichkeiten. Sie bezeichnet Möglichkeitsräume, Wünsche und Träume und gibt ihnen eine Gestalt.

Die Bedeutung utopischer Wissenschaften

Wie produktiv die Verbindung von Utopie und „welt-orientierter“ Wissenschaft sein kann, auch das hat sich in den letzten Jahrhunderten wissenschaftlicher Entwicklung immer wieder gezeigt: Denn auch eine welt-orientierte Wissenschaft wird von Menschen gemacht und durch deren Motive und Antriebe gesteuert. Und nichts scheint ein kraftvollerer Antrieb dafür zu sein als eine faszinierende Utopie. 

Schon die Theologie war davon getrieben, die innewohnende Rationalität der Offenbarung heiliger Texte zu entdecken, die Mathematik davon, einer universalisierbaren Sprache zur Beschreibung der Gesetze dieser Welt auf die Spur zu kommen. Von besonderer utopischer Kraft waren von Anfang an Disziplinen wie die Medizin oder die Ingenieurwissenschaft getrieben. Der Wunsch zu heilen, Schmerzen zu lindern, länger zu leben: All das hat die Medizin zu einer der am weitest entwickelten interdisziplinären Wissenschaften gemacht. Gleiches gilt für die Ingenieurwissenschaften in ihrem Wunsch, durch bessere (technische) Lösungen mehr Wohlstand und ein besseres Leben zu ermöglichen. Utopische Wissenschaften, also Wissenschaften, in denen sich Welterkenntnis mit dem Antrieb subjektiver Vorstellungswelten verknüpft, tun der Wissenschaftsentwicklung und den Menschen gut.

Wissenschaft ohne utopische Kraft verliert

Was passiert, wenn eine Wissenschaft ihre utopische Kraft verliert, dafür sind die Wirtschaftswissenschaften ein anschauliches Beispiel. Auch die Wirtschaftswissenschaften sind einst als utopische Wissenschaft gestartet. Adam Smith war 1764 auf der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten des „Wohlstands der Nationen“, um genau diesen Wohlstand zu mehren. Und so waren die Wirtschaftswissenschaften lange Zeit befeuert durch den Wunsch nach einer Erkenntnis, die menschliche Lebensqualität mehrt.

Doch genau dieser utopische Elan scheint den Wirtschaftswissenschaften in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen zu sein. Je mehr die Welt spätestens seit den 1980er-Jahren konsequent nach den Gesetzen ökonomischer Wissenschaft und ihrer Annahmen gestaltet ist, desto stärker kippt der Charakter der Wirtschaftswissenschaften.

Statt zur „Möglichkeitswissenschaft“, wie sie der Ökonom Reinhard Pfriem benennt, wird sie immer mehr Legitimations- und Partikularinteressen-Wissenschaft. Seit der Finanzkrise von 2007 steht sie massiv in der Kritik. Sie hat ihren utopischen Charakter verloren, wird nicht mehr als Motor für mehr Wohlstand und ein besseres Leben gesehen. Dies ist einer der Gründe, warum der Ruf nach einer „transformativen Wirtschaftswissenschaft“, die wieder von der Utopie eines besseren, nachhaltigen Lebens getrieben ist, lauter wird.

Möglichkeitswissenschaften im Zeitalter Nachhaltiger Entwicklung

Das Beispiel der Wirtschaftswissenschaften zeigt, wie wichtig utopische Wissenschaften sind: Eine Wissenschaft, die den Menschen dient, fühlt sich in der Wahrheit der Welt und der Wahrheit unserer subjektiven Vorstellungswelten und Antriebe zuhause.

Sie orientiert sich an Themen und Herausforderungen, die Menschen bewegen. Sie erzeugt nicht nur „Systemwissen“ über technisch-ökologisch-soziale Zusammenhänge, sondern auch „Zielwissen“ über wünschenswerte Zukünfte und „Transformationswissen“, das Menschen auf den Weg dieser Veränderungsprozesse mitnimmt und ihnen die Transformation erleichtert. Um das zu tun, ist eine utopische Wissenschaft nicht nur im Austausch mit anderen Disziplinen, sondern auch mit den Menschen, ihren Wünschen und Vorstellungen – sie ist damit auch die menschlichere Wissenschaft.

Prof. Dr. Uwe Schneidewind ist (utopischer) Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des Wuppertal Instituts. Im factory-Magazin Trans-Form schrieb er bereits über Die transformative Kraft der Wissenschaft, im factory-Magazin Wachstum über "Postwachstum als Geschäftsmodell".

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