Rebound

Kann ein Esel tragisch sein?

Technologische Entwicklung und ihre nachteiligen Folgen für Umwelt und Menschen lassen sich kaum vernünftig regulieren, einen Weg zurück gibt es nur nach Störfällen. Nötig zur Bewältigung des Rebound ist eine andere Erzählung, eine philosophische Ästhetisierung der Unschärfe.

Von Bernd Draser

Als Ödipus vom delphischen Orakel erfuhr, es sei sein Schicksal, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten, unternahm er sein Möglichstes, das zu verhindern. Er verließ Vater, Mutter und die Heimatstadt Korinth und begann ein neues Leben als König in Theben. So lässt sich die Vorgeschichte der Tragödie „König Ödipus“ von Sophokles zusammenfassen. Doch Ödipus hatte nicht alle Informationen, um eine gute Entscheidung zu treffen, obgleich sie gut gemeint war: Seinem leiblichen Vater begegnete er, ohne zu wissen, wer der sei, auf dem Weg nach Theben und erschlug ihn. In Theben angelangt, befreite er die Stadt von einer Krise und wurde mit der Königswürde samt Königin entlohnt; die war aber, auch das wusste er nicht, seine leibliche Mutter. Der erste Schritt zum tragischen Helden war für Ödipus der unbedingte Versuch, alles zu tun, um die Erfüllung des Orakels zu verhindern – und es eben dadurch erfüllte. 

Die wörtlichste Übersetzung des Begriffs Rebound-Effekt lautet „Abprall“ oder „Rückstoß“. Vom Rebound spricht man in der Pharmazie und der Mechanik, in der Finanzwelt und im Basketball, und seit den Neunzigern auch kontrovers in der Nachhaltigkeitsforschung, nämlich stets dann, wenn Effizienzgewinne, die eigentlich die absoluten ökologischen Auswirkungen mindern sollen, durch verschiedene immanente Verstrickungen das nur eingeschränkt oder sogar das Gegenteil davon tun. Der Rebound-Effekt ist, das zeigt die Ödipus-Analogie, die tragische Dimension der Nachhaltigkeitsstrategien, die auf die Steigerung von Effizienz und Produktivität setzen. 

Von Rückstoß bis Backfire

Die Verstrickungen, die zum Rebound-Effekt führen, können ökonomische, materielle, aber auch moralische Wechselwirkungen sein, die ungenügend berücksichtigt werden, da sie schwer zu quantifizieren sind. Der Effekt ist älter als das Wort und wurde bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom englischen Ökonomen William Jevons als Paradoxon beschrieben, damals noch in Bezug auf die Kohle, deren effizientere Nutzung nicht etwa zum Minder-, sondern im Gegenteil zum Mehrverbrauch führte. In Wirklichkeit ist der Effekt nicht nur klassisch, sondern menschlich – allzumenschlich, und in reinster klassischer Gestalt finden wir ihn im Ödipus-Drama des Sophokles. 

Delikat ist der moralische Rebound-Effekt, der oft, mehr verhüllend als entlarvend, psychologisch genannt wird: Durch die Moralisierung nachhaltiger Lebensweisen eröffnet sich dem Moralisten nicht nur die Möglichkeit, sich selbst zu erhöhen, sondern auch noch unbeschwert mehr – weil moralisch –  zu konsumieren. Die Beispiele sind geläufig: Wer Sparlampen einsetzt, ist verführt, das Licht länger brennen lassen; zusammen mit dem materiellen Mehrverbrauch wird die Stromersparnis locker überkompensiert. Wer ein Auto mit ökologischem Image fährt, kann im Hochgefühl sittlicher Überlegenheit auch öfter und weiter fahren; zusammen mit der Produktion des Autos reicht auch das an ein „Backfire“ heran, also einen Rebound-Effekt von über 100%. 

Jean-François Lyotard führte die Rede von den „großen Erzählungen“ ein; das sind Modelle der Weltdeutung, die ein System entwerfen, das für dienlich gehalten wird, alles zu deuten. Das sind heilsgeschichtliche Erzählungen wie die christliche und die Systemphilosophien von Hegel und Marx, das Weltbild der Naturwissenschaften etc., die jeweils eine umfassende Deutung der Welt unternehmen und aus dieser Deutung Maßnahmen ableiten, um die Welt mit der Erzählung in Einklang zu bringen. Die Differenz zwischen dem, was man als Ziel erhofft und dem, was wirklich passiert, oder anders gesagt: die Differenz zwischen der Einfalt der großen Erzählung und der Vielfalt der Wirklichkeit, diese tragische Differenz entspricht dem Rebound-Effekt.

Die Wirkung des Modells

Die große Erzählung der Technik ist für ihn besonders anfällig, weil die technischen Lösungen als funktionale Einheit an sich so raffiniert sein können, auf der Makroebene der Wechselwirkungen mit der Welt allerdings nur rudimentär durchdacht sind. Technik denkt hermetisch im Rahmen der eigenen großen, der technisch-instrumentellen Erzählung und kommt selten auf die Wechselwirkungsebene. Ein Smartphone zum Beispiel ist ein Wunderding an Hochtechnologie auf allerkleinstem Raum; es darf aber bezweifelt werden, ob im Entwurfsprozess die Frage nach der Gesamtmenge der Geräte und ihre Wechselwirkung mit der Natur eine prominente Rolle spielte. Es ist das erste Kriterium eines nachhaltigen Industrial Design, diese Wechselwirkungsdimension – man kann sie auch zyklisch nennen – im Entwurfsprozess angemessen zu berücksichtigen. 

Erkenntnistheoretisch ist der Rebound-Effekt die Unschärfe, die jeder Modellbildung eigen ist. Die hat durchaus einen Erkenntniswert, weil sie alles ausblendet, was im Rahmen des Modells unberücksichtigt bleiben soll, also Komplexität reduziert. Zum Problem wird diese Unschärfe erst dann, wenn das Modell seinen Modellcharakter vergisst und die reduzierte Komplexität mit dem Sinn der Geschichte oder ähnlichen Blasiertheiten verwechselt – der Fall bei den großen Erzählungen. Das technisch-instrumentelle Denken neigt dazu, die technische Machbarkeit mit dem Beleg für die Richtigkeit des Machens zu verwechseln; als Korrektiv setzen hier Disziplinen wie die Technikfolgenabschätzung an, um die Unschärfe des Modells wieder scharf zu stellen.

Das Versprechen der Effizienz

Viel transparenter und damit erkenntnissicherer sind Erzählungen, die sich als solche zu erkennen geben, weil sie ästhetischen Charakter haben, wie die Ödipus-Tragödie des Sophokles: Es ist wieder eine schwere Krise, die Pest, die das Gemeinwesen von Theben belastet. Es ist wieder ein Orakelspruch, der die Auskunft gibt, dass ein Frevel die Ursache der Pest sei. Ödipus hatte ja bereits eine Krise zugunsten der Stadt entschieden, indem er das Rätsel der Sphinx löste. Die Antwort lautete damals: „Es ist der Mensch.“ Diese Antwort haben wir vor Jahrzehnten auch gefunden, dass nämlich die bedrohlichen Veränderungen der Natur anthropogen sind. 

Wenn Ödipus sich nun als detektivisch aufklärender Rätsellöser auf die Spur des Frevels macht, wendet sich jeder seiner Erkenntnisfortschritte als tragischer Rückstoß gegen ihn selbst, denn er muss feststellen, dass er der gesuchte Frevler ist, und zwar nicht er als Mensch, sondern er als Individuum, ganz persönlich, völlig ohne Intention des Frevels oder Willen zum Verstoß, und doch vollständig in der Verantwortung. Jeder von uns als Einzelner steht wie er in der Verantwortung, die Rebound-Effekte mit zu bedenken und das eigene Handeln darauf hin zu überprüfen. Damit nehmen wir nicht nur unsere Souveränität als Individuen an, sondern beharren auch auf der Untilgbarkeit der Individualität, die kein Modell zurechtzustutzen vermag, die sich durch nichts auf den Begriff bringen lässt und lassen darf. 

Der Rebound-Effekt ist in doppeltem Sinne tragisch. Zum Einen bezeichnet er das Gegenteil dessen, was die Intention einer Handlung war – tragisch im Sinne der schicksalhaften Verstrickung in überkomplexe Wechselwirkungen. Zum Anderen kann man ihn nicht vollständig wegwünschen, weil sein Verschwinden das Auslöschen dessen bedeutet, was Adorno das Nichtidentische nennt, das widerständig Eigene eines jeden einzelnen Menschen. Wo ein Rebound-Effekt feststellbar ist, da sind wir vor der Tyrannei der großen Erzählungen noch sicher, da sind wir noch Herr der Modelle, noch nicht deren Gegenstand – doch die Modelle rüsten nach. 

Dieser Versuch kann nur mit Nietzsche schließen: „Kann ein Esel tragisch sein? — Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann? … Der Fall des Philosophen.“ Und nicht nur des Philosophen.

Bernd Draser lehrt Philosophie an der Ecosign-Akademie in Köln. Sein letztes Thema in der factory Sisyphos war Die tröstliche Schönheit des Scheiterns.

Mehr Beiträge zum Thema gibt es nicht nur online, sondern auch in unserem Magazin Rebound. Das ist reich illustriert und gut lesbar auf Tablet-Computern und Bildschirmen und enthält zudem sämtliche Beiträge und Fotos sowie Zahlen und Zitate.

Magazin als PDF

News zum Thema