Glück-Wunsch
Nicht nur, sondern auch
Der ist der Glücklichste, der sich keine Gedanken über das Glück macht, meinte einst Seneca – und schrieb ein umfangreiches Buch zum Thema. Heute erscheint dazu Buch um Buch, die Sehnsucht nach Glück ist präsenter als je zuvor, ihre Erfüllung ein wichtiger Wirtschaftsmotor. Doch um es zu erkennen, muss man unterscheiden können.
Von Wilhelm Schmid
Was ist Glück? Was bedeutet Glück für mich? Wer sich das fragt, sollte genau hinsehen. Denn dabei zeigt sich, dass nicht etwa nur eines, sondern mehrere „Glücke“ im Spiel sind, die auseinander zu halten sinnvoll sein könnte.
Das Zufallsglück
Da ist zuallererst das Zufallsglück, das das ganze Leben hindurch Bedeutung hat: Menschen wünschen sich etwas, das ihnen unvermutet zufällt und günstig für sie ausfällt. Im Deutschen rührt das Wort „Glück“ vom mittelhochdeutschen gelücke her, das in der Welt des Mittelalters den zufälligen Ausgang einer Angelegenheit bezeichnete, ursprünglich jedoch nicht nur im günstigen, sondern auch im ungünstigen Sinne. Wesentlich am Zufallsglück ist seine Unverfügbarkeit; verfügbar ist lediglich die Haltung, die ein Mensch dazu einnehmen kann: Er kann sich öffnen oder verschließen für den Zufall einer Begegnung, einer Erfahrung, einer Information. Im Inneren seiner selbst wie im Äußeren seiner Lebensführung kann er das Schmetterlingsnetz bereithalten, in dem ein Zufall sich verfangen kann, oder die Wand errichten, an der jeder Zufall abprallt.
Es scheint so, als würde die Offenheit eines Menschen das günstige Zufallsglück beflügeln: Gerne macht es dort Station, wo es sich gut aufgehoben fühlt und nicht noch Vorwürfe zu hören bekommt, dass es „momentan nicht passt“ – ganz so, als wäre der Zufall ein Wesen, das genau spürt, wo es willkommen ist und wo nicht. Eine forciert offene, eine offensive Haltung im Umgang mit dem Zufall bestünde zudem darin, das Glück zu kitzeln, ihm eine Chance zu geben, auch wenn es unverfügbar bleibt: Wer auf den Zufall einer Begegnung, Erfahrung, Information hofft, tut gut daran, dies Anderen mitzuteilen; auch das Internet lässt sich dafür nutzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass von irgendwoher etwas zufällt, ist dann jedenfalls deutlich größer, als wenn die Hoffnung im eigenen Inneren verschlossen bleibt. Wer nie Lotto spielt, hat keine Aussichten auf einen Lottogewinn.
Das Wohlfühlglück
Suchen Menschen in moderner Zeit nach Glück, so verstehen sie darunter meist, dass es ihnen gut geht, dass sie gesund sind, sich wohl fühlen, Spaß haben, angenehme Erfahrungen machen, Lüste empfinden, Erfolg haben, kurz: all das erleben, was als positiv gilt. Neben dem Zufallsglück geht es also um ein Glück, das man das Wohlfühlglück nennen kann. Es hält glückliche Augenblicke bereit, für die der Einzelne sich offen halten und die er auch selbst präparieren kann; Augenblicke, die sich suchen und finden lassen und die so schön sind, dass sie verweilen sollen. Für dieses Glück lässt sich wirklich viel tun, es ist machbar, soweit es sich nicht ohnehin von selbst ergibt. Mit ein wenig Erfahrung kann ein Mensch seine Ingredenzien kennen und an ihrer Bereitstellung arbeiten, Tag für Tag.
So ein Glücksmoment ist eine aromatisch duftende, wohlschmeckende Tasse Kaffee. Oder ein schöner Film, der zelebriert wird, vielleicht mit einem Abend im Kino. Oder das vertraute Gespräch, in dem Liebende und Freunde sich miteinander selig verlieren, denn die Aufmerksamkeit des Anderen tut so gut, dass es dabei kaum je zur Sättigung kommt. Oder die Wellness, die in der Sauna oder sonst wo zu genießen ist. Die Schokolade nicht zu vergessen, mit möglichst hohem Kakaoanteil. Auch die Herausforderung, die bewältigt wird, die neue Erkenntnis, die neue Erfahrung, der unbekannte Weg, die ungewohnte Umgebung, die andere Tätigkeit, solange sie den Reiz des Neuen bietet. Und durchweg die Vorfreude, das Verlangen und Begehren, was oft mehr Glück vermittelt als das Genießen selbst, noch dazu eines, das weit länger vorhält.
Das Problem ist nur: Diese Art von Glück hält nie lange vor. Was ist mit den Momenten danach, mit den Zeiten dazwischen? Moderne Menschen sind nicht darauf vorbereitet, dass es diese „Auszeiten“ gibt, diese Flauten; sie tun sich schwer mit den tristen, grauen, alltäglichen Zeiten, in denen die Lust sich erst wieder erholen muss. Mit den gewöhnlichen Zeiten des Lebens zurechtzukommen, ist nicht einfach. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist jedoch, diese Zeiten in ihrem eigenen Recht anzuerkennen, um an einer Kunst des Umgangs mit ihnen arbeiten zu können. Darüber hinaus aber gibt es noch ein weiteres Glück.
Das Glück der Fülle
Das größere Glück, das Glück der Fülle, umfasst immer auch die andere Seite, das Unangenehme, Schmerzliche und „Negative“, mit dem zurechtzukommen ist. Abhängig ist dieses Glück der Fülle allein von der Haltung zum Leben, die ein Mensch einnimmt und im Laufe der Zeit einübt, ausgehend von der Überlegung, was denn das Eigentümliche des Lebens durch all seine Phänomene und Unwägbarkeiten hindurch ist: Ist es nicht die Polarität, die Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit, die sich in allen Dingen und Erfahrungen zeigt? Es ist nun mal so, dass es negative Dinge gibt, die nicht verschwinden, unabhängig davon, wie viele Schönheitsoperationen unternommen, Medikamente erfunden, politische Maßnahmen ergriffen werden.
Erscheint mir das Leben in all seiner Polarität dennoch von Grund auf schön und bejahenswert, kann sich das Glück der Fülle einstellen. Dieses ist umfassender und dauerhafter als alles Zufallsglück und Wohlfühlglück; es ist das eigentlich philosophische Glück, nicht abhängig von günstigen oder ungünstigen Zufällen, von den momentanen Schwankungen zwischen Wohlgefühl und Unwohlsein, vielmehr die immer aufs Neue zu findende Balance in aller Polarität des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, sondern durch das gesamte Leben hindurch: Nicht nur Gelingen, auch Misslingen; nicht nur Erfolg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz; nicht nur Gesundheit, auch Krankheit; nicht nur Fröhlichsein, auch Traurigsein; nicht nur Zufriedensein, auch Unzufriedensein. Nicht nur erfüllte, sondern auch leere Tage. Den entscheidenden Schritt zu diesem Glück macht ein Mensch mit der Festlegung seiner Haltung selbst. Keines der genannten „Glücke“ ist verzichtbar, das dritte Glück aber gilt es in modernen, vom Angenehmen verwöhnten Zeiten erst wieder zu entdecken.
Wilhelm Schmid lehrt Philosophie an der Universität Erfurt. Sein Buch Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen erschien 2007 im Insel Verlag. Im November erhielt er den Wissenschaftspreis der Schweizer Egnér-Stiftung für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst.
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