Vielfalt

Viel mehr wert

Die Vielfalt der Natur ist für Wirtschaft und Gesellschaft von gleichermaßen hohem Wert. Eine weitere Reduktion verringert nicht nur ihre und unsere Widerstandsfähigkeit, sie lässt auch Produktivität, Resilienz und Wertschöpfung der Wirtschaft schrumpfen und erhöht gleichzeitig die Gefahren für die menschliche Gesundheit. Der Schutz der Biodiversität gehört deswegen neben der Bewältigung der Klimakrise mittlerweile zu den dringendsten Aufgaben.

Von Frauke Fischer und Hilke Oberhansberg

Tier- und Pflanzenarten sind schon immer „einfach so“ verschwunden. Die meisten jedoch nicht, weil sie im engeren Sinne ausstarben (also der letzte Vertreter ihrer Art ohne Nachkommen verstorben war), sondern weil sie sich zu anderen Arten entwickelt haben. So sind beispielsweise Dinosaurier keinesfalls komplett ausgestorben. Kleine, gefiederte Dinosaurier gibt es noch heute. Wir nennen sie jetzt nur anders, nämlich „Vögel“.

Die Arten, die komplett erloschen sind, verschwanden früher eher langsam von der Weltbühne. Das gilt zum Beispiel für die großen Dinosaurier, deren „plötzliches“ Aussterben sich vermutlich über Jahrtausende hinzog. Das alles ist heute anders: Viele Arten verschwinden komplett und das in einem solchen Tempo, dass wir dabei zuschauen können. Zwischen 1970 und 2016 haben Populationen von Säugetieren, Vögeln, Amphibien und Fischen einen durchschnittlichen Rückgang von 68 Prozent erfahren. Über 40 Prozent aller Insektenarten weisen drastisch abnehmende Bestände auf. Von den daraufhin untersuchten Tier- und Pflanzenarten sind 28 Prozent vom Aussterben bedroht. Insgesamt sind das etwa eine Million Arten.
Und obwohl immer ausgestorben wird, haben wir die natürliche Aussterberate vermutlich um den Faktor 1.000 beschleunigt!

Der Preis der Dominanz

Stellen wir uns eine Wippe vor, auf deren rechter Seite alle Säugetiere der Erde Platz nähmen, und zwar alle außer Menschen mit ihren Rindern und Schweinen – die drängelten sich auf die linke Seite. Dann würde die rechte Seite mit Elefanten, Blauwalen, Nilpferden, Büffeln und all den anderen tierischen Giganten nach oben schnellen und dort reglos verharren, denn heutzutage machen allein Menschen und ihre Haustiere (Rinder, Schweine – und zu einem kleinen Teil Schafe, Ziegen und Co.) 96 Prozent der gesamten Säugetierbiomasse aus.

Diese Abnahme einer schieren Zahl von Individuen macht alle betroffenen Arten anfällig für ein komplettes Aussterben. Auf der anderen Seite geht jede zahlenmäßige Dominanz (wir Menschen sowie wenige Haustierarten) mit einem Verlust an Vielfalt (alle wilden Säugetiere) einher und das ist immer, aber gerade im Falle der Natur, fatal, denn unser (Über-)Leben ist abhängig von Biodiversität und dem, was sie leistet.

Das World Wide Web of Life

Biodiversität bedeutet nicht nur Artenvielfalt, sondern auch die Vielfalt von Genen und Ökosystemen, die über komplexe Prozesse miteinander verbunden sind. Dabei sind die Zusammenhänge in diesem World Wide Web of Life so kompliziert, dass wir sie bis heute kaum verstehen. Wir wissen weder exakt, wie viele Tier- und Pflanzenarten es auf unserem Planeten gibt, noch welche Rolle diese in den vielfältig ablaufenden natürlichen Prozessen spielen. Um so wichtiger ist es, die Vielfalt zu bewahren und – damit das Zusammenspiel der Natur in ihren Ökosystemen auch in Zukunft funktioniert – im Zweifel das Vorsichtsprinzip walten zu lassen. Denn diese Ökosysteme erbringen Leistungen, von denen unser Überleben abhängt. Sie regulieren das Weltklima über die Steuerung des globalen Wasserhaushalts und über die Bindung von Kohlendioxid (CO2), sie liefern Rohstoffe und Nahrung, wie Holz und Meeresfische, sie stabilisieren Nährstoffkreisläufe und reinigen Luft und Wasser. Noch immer stammen die meisten Krebsmedikamente und die stärksten Schmerzmittel aus der Natur. Und trotz großen technologischen Fortschrittes ist und bleibt die Natur der kreativste Ideengeber.

Intakte Ökosysteme liefern nicht nur wertvolle Rohstoffe, sie schützen auch Leben und Eigentum: Auen mindern Hochwasser, Wälder sichern Hänge vor Erdrutschen und Mangroven schützen vor Sturmfluten und sogar Tsunamis. Sie puffern damit Risiken ab, die ansonsten Finanzdienstleistungen teurer machen oder das Ausfallrisiko von Krediten erhöhen. Damit hängen auch Branchen, in deren Wertschöpfungsketten der Verbrauch natürlicher Ressourcen keine Rolle spielt, wie bei Banken, Versicherungen oder anderen Dienstleistern, von den Regulationsleistungen der Natur ab. Und nicht zuletzt sind sie unschätzbare Partner im Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen: Wälder etwa sind gigantische Kohlenstoffspeicher, und in Städten sorgen Grünflächen zusätzlich für natürliche Kühlung und machen CO2-emittierende Klimaanlagen überflüssig.

Manche dieser Ökosystemleistungen können wir durch technische Lösungen ersetzen – die meisten sind teurer und weniger effektiv. Dazu gehören beispielsweise das Reinigen von Luft oder Wasser durch Filter oder der Schutz vor Fluten durch Dämme. Andere sind unersetzbar, wie die Bereitstellung fruchtbarer Böden oder die Herstellung von Rohstoffen wie Holz oder Meeresfische.
Es gibt keinen einzigen Lebensbereich – und damit auch keinen Wirtschaftszweig –, der nicht von der Intaktheit von Ökosystemen und deren biologischer Vielfalt abhängig wäre.

Geldwerter Vorteil

Ein Team um den anerkannten, US-amerikanischen Umweltökonom Robert Costanza hat 2014 die jährlichen Leistungen von Ökosystemen für das Wohlergehen von Menschen weltweit (bezogen auf das Jahr 2011) auf über 145 Billionen US-Dollar beziffert. Zum Vergleich: Das weltweite Bruttoinlandsprodukt lag laut Weltbank im selben Jahr bei gut 73 Billionen US-Dollar, also bei etwa der Hälfte. Costanza und Kolleg*innen haben auch berechnet, dass wir zwischen 1997 und 2011 allein durch Landnutzungsänderungen jedes Jahr Ökosystemleistungen im Wert von 4,3 bis 20,2 Billionen US-Dollar verloren haben. Gleichzeitig hängen nach Schätzungen des World Economic Forum etwa 44 Billionen US-Dollar des weltweiten Bruttosozialprodukts wiederum direkt von Leistungen der Natur ab.

Die fatale Fehleinschätzung in der Vergangenheit war, dass wir diese zen­tralen Leistungen als selbstverständlich, unerschöpflich und kostenlos angesehen haben. Deswegen waren sie nie Bestandteil politischer oder unternehmerischer Entscheidungsprozesse. Sie sind aber weder selbstverständlich noch unerschöpflich und müssten daher klug gemanagt und nicht achtlos verbraucht werden. Das ist bei Gemeingütern, die allen gehören, den so genannten Commons, aber nicht so einfach.

Eine Studie der britischen Regierung vom Februar 2021 legt genau hier den Finger in die Wunde und spricht davon, dass wir im Zusammenhang mit der Zerstörung von Biodiversität und Ökosystemleistungen ein institutionelles Versagen globalen Ausmaßes vor uns sehen. Auch das kann mit Zahlen belegt werden: Während sich das Finanzkapital pro Erdenbürger zwischen 1992 und 2014 etwa verdoppelt hat, und das Humankapital (Bildung, Kreativität, Fähigkeiten…) um 13 Prozent gestiegen ist, ist das Naturkapital pro Person im gleichen Zeitraum um 40 Prozent gesunken.

Damit Naturkapital in den Bilanzen dieser Welt auftaucht, muss ihm ein (monetärer) Wert zugerechnet werden. Bisher lässt sich mit der Zerstörung von Ökosystemen mehr Geld verdienen als mit deren Erhalt. Betrachten wir die Situation tropischer Regenwälder, auf die wir nicht zuletzt im Kampf gegen den Klimawandel so sehr angewiesen sind, genauer, wird das Dilemma sichtbar. Industrienationen erwarten von den Ländern des globalen Südens, in denen diese wichtigen Ökosysteme liegen, dass sie darauf verzichten, das Holz zu verkaufen, Rinder zu züchten, Rohstoffe abzubauen, um für uns alle den Wald mit seinen Funktionen zu erhalten. Wenn wir aber fordern, dass diese Länder auf die Kapitalisierung ihres Eigentums verzichten, brauchen wir neue Finanzinstrumente.

Nutzen für alle

2007 bot der damalige Präsident Ecuadors, Rafael Correa, an, reiche Ölvorkommen in den Wäldern seines Landes unangetastet zu lassen, sofern die Weltgemeinschaft Ecuador dafür im Gegenzug 3,6 Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellen würde, um etwa die Hälfte der entgangenen Einnahmen aufzufangen. Die Forderung wurde weltweit kontrovers bewertet. Unterstützer lobten den innovativen Ansatz zur Lastenverteilung, während Kritiker den Vorwurf der Erpressung erhoben. Die von potenziellen Geberländern geforderte Mitsprache bei der Verwendung der Gelder wurde wiederum von Correa abgelehnt. Sechs Jahre später waren nur Zusagen für weniger als 10 Prozent der Summe eingegangen, so dass Correa seine Zusage, auf die Förderung von Öl zu verzichten, zurücknahm. In einer nationalen Ansprache sagte der Präsident, Ecuador habe von der Welt keine Wohltätigkeit erbeten, sondern eine Mitverantwortung angesichts des Klimawandels gefordert. 2016 begannen die ersten Bohrungen mit den zu erwartenden negativen Folgen für die Natur.

Wenn die Welt sich also auf ein solches Vorgehen nicht einigen kann, dann muss man entweder den zerstörerischen Umgang mit Ökosystemen verteuern, indem man einen Preis für deren Zerstörung festsetzt, oder Geschäftsmodelle entwickeln, die mit der nachhaltigen Bewirtschaftung von Ökosystemen Geld verdienen. 

Ein gelungenes Beispiel für den „Business Case of Biodiversity“ ist die Produktion von Kakao der Kleinbauernkooperative APECMU im abgelegenen Urubambatal in Peru. Anders als üblich bauen diese Bauern nicht Industriekakao in Monokultur an, sondern seltenen Urkakao Chuncho in artenreichen Mischkulturen, sogenannten Agroforstsystemen. Auf degradierten Böden, die andere Bauern zunächst durch die Brandrodung von Regenwäldern „urbar“ gemacht und dann nach wenigen Jahren einer nicht-nachhaltigen Landwirtschaft verlassen haben, werden zunächst Bodendecker gesät. Diese schnellwachsenden, krautigen Pflanzen binden Luftstickstoff. Zusammen mit dem überwucherten, verrottenden Pflanzenmaterial wird daraus fruchtbarer Boden. Nachfolgend wird Kakao mit bis zu 70 verschiedenen einheimischen Baumarten als Schattenbäume gepflanzt. Dazwischen Obst, Gemüse und Gewürze. Ein Einsatz von Pestiziden oder Kunstdünger unterbleibt komplett.

Die hohe Biodiversität auf den Flächen verhindert die Ausbreitung von Krankheiten und Kakaoschädlingen. Gleichzeitig finden die winzigen Bestäuber des Kakaos auf den hochdiversen Flächen perfekte Lebensbedingungen mit dem Effekt, dass die Bestäubungsrate schnell steigt. Im Ergebnis erzeugen die Bauern hohe Erträge einer besonders wertvollen Kakaosorte und produzieren zusätzlich Obst, Gemüse und Gewürze für den Eigenbedarf und den lokalen Markt. Die Mischung aus schnellwachsenden Nutzholzarten (für Feuer- und Bauholz) und langsam wachsenden Wertholzarten (für Möbel) bringt zusätzliches Einkommen. Weil alle Bauern durch den Direkthandel hohe Einkommen erzielen und die Vermarktung explizit auf das Thema Erhalt von Biodiversität abzielt, haben die Bauern sich vertraglich verpflichtet, 900 Hektar ursprünglichen Regenwald in ihrem Besitz unter Schutz zu stellen. So kann man am Ende mit Schokolade den Regenwald retten.

Alu, Schimpansen und Corona

Gilt das nur für die Herstellung von Lebensmitteln? Nein, denn Ressourcen und Lieferkette eines jeden Produkts müssen unter dem Aspekt des Einflusses auf Biodiversität analysiert werden. So spielt Aluminium in vielen technischen Geräten als leichtes und vielfältig einsetzbares Material eine große Rolle. Was Produkte bei uns leichter, energieeffizienter oder schneller macht, birgt dramatische, versteckte Kosten für Biodiversität und Ökosystemleistungen. Aluminium wird aus Bauxit gewonnen. Dessen größte Reserven liegen im westafrikanischen Guinea und werden dort im Tagebau gefördert. Über den Lagerstätten von Bauxit steht tropischer Regenwald, in dem im Falle von Guinea die größte Schimpansenpopulation der Welt lebt. Um nun Bauxit abzubauen, muss zuvor der Wald und damit der Lebensraum der Schimpansen verschwinden. Weil die Schimpansen nirgendwo „zwischengelagert“ werden können und Menschen zwar Bäume, aber keinen Wald pflanzen können, ist der biologische Fußabdruck von Aluminium gigantisch.

Umdenken müssen wir hier nicht nur, weil wir dem Bestand unserer engsten „wilden Verwandten“ den Garaus machen, sondern auch, weil wir durch Regenwaldzerstörung letzten Endes Zoonosen den Weg in die Zentren der Großstädte, auch europäischer, ebnen. Zoonosen, also Krankheiten, die von (Wild-) Tieren auf Menschen überspringen, sind immer dann möglich, wenn beide eng genug miteinander in Kontakt kommen. Wo Menschen in Regenwälder eindringen, um Holz zu schlagen, nach Bodenschätzen zu graben oder Wildfleisch zu handeln, kommen sie mit Arten zusammen, mit denen sie vorher keinen engen Kontakt hatten, und Viren haben leichtes Spiel.

So stammt das gerade grassierende Coronavirus ursprünglich aus Fledermäusen asiatischer Regenwälder. Wie überhaupt etwa 30 Prozent aller neu auftretenden Krankheiten auf derartige Eingriffe zurückgehen. Wären die Menschen nicht in deren Lebensräume vorgedrungen, wären uns nach neuesten Berechnungen 13 Billionen Euro an Schaden erspart geblieben.

Nicht erst mit dem Lieferkettengesetz gilt eine Mitverantwortung des Produzenten für die eingesetzten Rohstoffe. Die Auswahl der Lieferanten sollte also unbedingt auch Aspekte der Biodiversität berücksichtigen. Und natürlich ist auch hier Ressourceneffizienz von elementarer Bedeutung. Denn je weniger Rohstoffe benötigt werden, sei es durch Produktgestaltung, Langlebigkeit oder Prozessoptimierung, desto weniger Eingriffe in die Natur sind nötig.

Vor der eigenen Tür gekehrt

Unser wirtschaftender Einfluss auf Biodiversität und Möglichkeiten beschränkt sich nicht auf die Tropen oder die Herkunftsländer der Rohstoffe. Schauen wir nur auf die Betriebsgelände von Unternehmen, sehen wir oft riesige versiegelte Flächen, auf denen kein Halm wächst und kein Tropfen Regen versickern kann. Mit dem Entsiegeln solcher Flächen kann viel gegen sinkende Grundwasserspiegel und Überschwemmungen getan werden. Eine sinnvolle Bepflanzung kann der Klimaregulierung in und an Gebäuden dienen, Lebensraum für Insekten und andere Arten schaffen und nicht zuletzt das Wohlbefinden der Mitarbeiter fördern - beispielsweise durch den Blick ins Grüne oder die Mittagspause unter Bäumen.

Ein anderer Bereich im Unternehmensalltag, der etwas für den Erhalt von Biodiversität leisten kann, ist zum Beispiel der Betrieb der Kantine. Regionale, saisonale, ökologische Produkte, Verzicht auf Einwegverpackungen und auch hier die Vermeidung von Abfällen (also Ressourceneffizienz) schützen Biodiversität, gerade in nahem Umfeld.

Grundsätzlich gilt: Jeder Bereich unseres Lebens – Ernährung, Gesundheit, Sicherheit, Wohnen, Freizeit, Arbeit – ist abhängig von der Leistungsfähigkeit der Ökosysteme. Biodiversität ist Dienstleister, Ideengeber, Erholungsfaktor und Garant tiefer Zufriedenheit. Ökonomie kann nicht separat von den Leistungen der Natur gedacht werden. Wenn wir Biodiversität und Ökosysteme nicht schützen, entziehen wir uns unsere eigene Lebensgrundlage, vernichten immense Werte und liefern Steilvorlagen für neue Pandemien.


Dr. Frauke Fischer ist Biologin, Dr. Hilke Oberhansberg Wirtschafts- und Umweltwissenschaftlerin. Sie sind Autorinnen des Buchs „Was hat die Mücke je für uns getan“, erschienen 2020 im oekom Verlag, München. Mit ihrer Agentur „auf!“ beraten sie Unternehmen zu Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Biodiversität.

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