Mobilität
Von der Automobil- zur Mobilitätsindustrie
Die Automobilindustrie hat mit Millionen Arbeitsplätzen in den Werken und bei Zulieferern einen hohen Anteil an der bisherigen Wertschöpfung. Mit dem Mobilitätswandel wird diese durch veränderte Antriebsformate einerseits geringer. Andererseits kann sie als Mobilitätsdienstleister erneut entstehen. Wie Zukunftsmodelle für Unternehmen und Arbeitnehmer aussehen können und wie der Staat den Ausstieg industriepolitisch stützen kann.
Von Oliver Lah
Räder bewegen die Welt, das wird auch in Zukunft so sein. Die wesentliche Frage lautet, wie viele Räder es dafür braucht und wie diese angetrieben werden. Als sicher gilt, dass die Verkehrsnachfrage weiter steigen wird, besonders in Schwellen- und Entwicklungsländern. Damit bleibt der Mobilitätssektor weiterhin ein zentraler Wachstumsmotor für wirtschaftliche Entwicklung. Entscheidend dafür ist es aber, die Zeichen der Zeit zu erkennen und rechtzeitig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. So hatte die europäische Automobilindustrie lange den Trend zur Elektromobilität verschlafen und muss nun versuchen, nicht völlig den Anschluss an Wettbewerber, vor allem aus China, zu verlieren. Dabei geht es nicht nur um einen puren Wechsel der Antriebstechnologien, sondern auch um einen neuen Blick auf Mobilität – und damit nicht allein auf das Fahrzeug als primäres Produkt einer sich wandelnden Industrie.
Elektrifizierung und Automatisierung können dazu einen Beitrag leisten, aber nur als Teil einer größeren Transformation zu einem integrierten, nachhaltigen Mobiltätssystem. So kann man die Vision des Fahrens ohne Lenkrad schon heute erleben, in S-, und U-Bahn, Tram oder Bus. Nur fehlt es oft an Verlässlichkeit, Effizienz und Attraktivität des Angebotes und an einer guten Verbindung für die letzten Meter. Dafür würde die Innovationskraft der Industrie dringend benötigt – und nicht für die Entwicklung von Technologien, um bestehende Regularien zu umgehen und veraltete Antriebsysteme und Mobilitätsmuster am Leben zu erhalten.
Potenziale für Wirtschaft und Gesellschaft
Selbst in sehr optimistischen Szenarien bleibt der Verkehrssektor auf dem aktuellen Niveau seiner Treibhausgasemissionen. Das Wachstum der Mobilitätsnachfrage übertrifft bei weitem die Effizienzsteigerungen, die mit den aktuellen technologischen Fortschritten erreicht werden könnten. Und selbst unter Berücksichtigung einer substanziellen Einführung effizienterer Fahrzeugtechnologien und einiger Verkehrsverlagerungen werden die CO2-Emissionen im Verkehrssektor bis 2050 immer noch bei etwa 7,5 Gigatonnen CO2 liegen (International Transport Forum, 2017). Sollte die Fahrzeugflotte und die individuelle Mobilität in der selben Geschwindigkeit wachsen wie in den letzten Jahren, könnten sich die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor global bis 2050 sogar verdoppeln (Sims et al., 2014).
Daher ist der Klimaschutz im Verkehrssektor von zentraler Bedeutung für die globalen Klimaschutzbemühungen, die Erderwärmung deutlich unter zwei Grad Celsius zu stabilisieren. Um zu diesem Ziel beizutragen, müssen die Industrieländer ihren Verkehrssektor in den kommenden Jahrzehnten rasch dekarbonisieren (-80 Prozent bis 2050), und die Entwicklungs- und Schwellenländer müssen Maßnahmen ergreifen das Mobilitätswachstum mit nicht-motorisiertem und öffentlichen Personenverkehr zu gewährleisten und die Nachfrage nach individueller motorisierter Mobilität auf maximal +70 Prozent bis 2050 zu beschränken. Schaut man sich die Beiträge der einzelner Länder zum Pariser Abkommen (der Nationally Determined Contributions, NDCs) näher an, wird deutlich, dass zwischen den erforderlichen Minderungsmaßnahmen und den vorgeschlagenen politischen Maßnahmen der Länder eine große Lücke besteht.
Dabei existiert ein hohes Potenzial bei der Dekarbonisierung des Verkehrssektors, generiert zum Beispiel durch Kraftstoffeinsparungen, weniger und effizientere Infrastrukturen und Fahrzeuge. Diese Einsparungen könnten etwa 50 bis 100 Billionen US-Dollar ausmachen und damit die Kosten einer Dekarbonisierung deutlich überkompensieren (IEA 2016). Und es gibt noch weitere Potenziale nachhaltiger Mobilität, wie mehr Verkehrssicherheit, höhere Luftqualität und geringere Reisezeiten, die für die Umstellung auf kohlenstoffarmen Verkehr sprechen. Zudem bieten neue Mobilitätssysteme und Dienstleistungen ebenso hohe Potenziale für die Gesellschaft wie für die Industrie. Innovation im Sinne einer Transformation des Sektors bedeutet nicht, graduelle Weiterentwicklungen bestehender Technologien vorzunehmen, sondern einen sofortigen substanziellen Wandel der Industrie.
Aufwachen nach langem Schlaf
Die Hälfte des E-Mobility Weltmarktes fällt zur Zeit auf China. Fast 90 Prozent der global betriebenen Elektrobusse werden in China hergestellt – und die meisten auch dort eingesetzt. Allein die Stadt Shenzhen hat eine Flotte von über 15.000 elektrischen Bussen. Berlin dagegen hat derzeit vier, keinen davon im regulären Einsatz. Audi verkündete im September 2018 stolz, dass mit dem neuen Modell e-tron der erste Batterie-elektrische SUV des Ingolstädter Autobauers auf dem Markt erhältlich ist. Doch wie nachhaltig und gesellschaftlich sinnvoll kann ein 2,5 Tonnen schweres Fahrzeug für die Beförderung meist nur einer Person sein? Allein die Batterie wiegt 700 Kilogramm. Mit denselben Rohstoffen könnte man 85 Elektroroller auf die Straße bringen.
Immerhin hat Piaggio in diesem Jahr die erste e-Vespa in den Handel gebracht, allerdings Jahre nachdem kleine Start-up Unternehmen wie UNU und NIU elektrisch betriebene, in China produzierte Roller auf den Markt gebracht hatten und inzwischen kaum mit der großen Nachfrage Schritt halten können. Die Deutsche Post AG gab es 2014 auf, länger auf elektrisch betriebene Fahrzeuge deutscher Automobilhersteller für die wachsende Lieferwagenflotte zu warten. Das Unternehmen geht seitdem mit der Produktion elektrischer Kleintransporter und Lastenräder unter dem Namen StreetScooter lieber eigene Wege (siehe diese factory, Seite 30, oder in Mach die Wende!).
Tatsächlich haben auch große europäische Zulieferer wie Bosch und Valeo das Potenzial von neuen Geschäftsmodellen erkannt, allerdings machen neue Mobilitätslösungen erst einen sehr geringen Teil des Portfolios dieser Unternehmen aus. Dazu gehören innovative E-Motorrollerverleihsysteme wie zum Beispiel die Bosch-Tochter Coup oder das Start-up Emmy. Daneben haben sich einige Fahrradverleihsysteme in vielen Städten etabliert und zahlreiche ÖPNV-Anbieter arbeiten ebenfalls an innovativen Lösungen, um nachhaltige Mobilität attraktiver zu machen.
Die bisher eher aus dem Ausland bekannten elektrischen Mini-Taxis, auch bekannt als Tuk-Tuks, werden je nach Größe und Ausstattung zum Preis von 2.500 bis 10.000 Euro in Thailand und Indien hergestellt und finden sich mittlerweile auch in Lissabon, Paris oder Berlin wieder.
Progressive Industriepolitik setzt Rahmenbedingungen
Trotzdem: Auch wenn ambitionierte Start-ups in allen Bereichen der Elektromobilität innovative Fahrzeuge und Services anbieten, sind es die politischen Rahmenbedingungen, die die weitere Transformation des gesamten Sektors erst möglich machen. Chinas Quotenregelungen für Elektrofahrzeuge sind klar auch aus industriepolitischer Sicht gedacht. Weil China ein Rennen mit europäischen und amerikanischen Konkurrenten um konventionelle Antriebstechnologien kaum gewinnen kann, ist es nicht nur mit Blick auf die Luftqualität, sondern auch aus praktischen wirtschaftlichen Überlegungen logisch, auf Elektromobilität zu setzen. Auch in Indien und Brasilien wird Elektromobilität mit einem klaren Industriepolitischem Hintergrund verfolgt.
Werden die neuen Fahrzeugtechnologien gekoppelt mit innovativen Nutzungsmodellen, die privative und öffentliche, individuelle und geteilte Formen der Mobilität miteinander verknüpfen, ist der entscheidende Schritt zu einer zukunftsfähigen Mobilität getan, die wirtschaftliche Möglichkeiten, soziale Inklusion und Zugang für alle mit Luft- und Lebensqualität und Klimazielen in Einklang bringt. Sowohl die Politik als auch die Industrie in Europa haben viele Trends für innovative Mobilitätslösungen weitestgehend verschlafen – aber es ist noch nicht zu spät, eine Brücke zwischen dem wirtschaftlichen Potenzial und der gesellschaftlichen Notwendigkeit zu schlagen.
Wie sich derartige Verbindungen von politischen Zielen und Akteuren schaffen lassen, daran arbeiten das Wuppertal Institut, UN-Habitat und weitere Partner im Rahmen der Urban Electric Mobility Initiative (UEMI). Sie entwickelt derzeit in Pilotprojekten innovative Fahrzeug- und Nutzungskonzepte, die einen deutlich verbesserten Zugang zu Mobilitätsdienstleitungen, zur Steigerung der Luftqualität und zur Reduktion von Treibhausgasen gewährleisten sollen und zur lokalen Wertschöpfungskette beitragen.
Oliver Lah ist Leiter des Forschungsbereichs Mobilität und internationale Kooperationen am Wuppertal Institut.
Weitere Beiträge zum Thema Mobilität und Verkehrswende finden Sie im gleichnamigen factory-Magazin Mobilität. Das lässt sich kostenlos laden und ist angenehm lesbar auf Bildschirmen und Tablet-Computern. Wie immer ist es dazu hübsch illustriert und enthält sämtliche Artikel im kompakten Tablet-Format, dazu entsprechende Zahlen und Zitate. Online im Themenbereich sind ebenfalls einige Beiträge verfügbar – dort lassen sie sich auch kommentieren und bewerten.
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