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Historisch wirksam. Wie Innovation und Technik transformieren

Die Londoner U-Bahn ist 150 Jahre alt. Zunächst sprach nicht viel für diese Mobilitätsinnovation, die mit Dampf und offenen Wagen durch die Tunnel fuhr. Ein Essay zur Technikgeschichte von der schöpferischen Zerstörung durch Innovation bis zur Transformation durch das Internet der Dinge.

Von Bert Beyers

Wir schreiben das Jahr 1863. In London nimmt die Metropolitan Railway Company ihren Betrieb auf – und zwar unterirdisch. Die erste U-Bahn der Welt. England war das Mutterland der industriellen Revolution. Und London die größte und reichste Stadt der Welt. Sie erstickte im Verkehr. Tausende Kutschen, Droschken und von Pferden gezogene Busse verstopften die Straßen. Hunderttausende Arbeiter wohnten an der Peripherie, weil es billiger war. Jeden Tag mussten sie in die Stadt, zu Fuß. Das Bedürfnis nach einem neuen, leistungsfähigen Verkehrsmittel war groß. Aber niemand konnte sich vorstellen, dass man mit Bahnen unter der Erde fuhr. Das konnte nur Charles ­Pearson. Jahrelang umgarnte er Investoren, vermittelte zwischen befeindeten Unternehmern, machte PR. Und die war bitter nötig.

Es gab keine Erfahrung, keine Studien, keine Tests. London war eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Der Bau der U-Bahn: eine Operation am offenen Herzen. Pearson hatte eine Menge Probleme, sein größtes, die Züge fuhren mit Dampf. Unter der Erde stank es zum Himmel. In den Tunneln stand der Rauch. Panikattacken von Frauen und Kindern in vernebelten U-Bahnstationen waren an der Tagesordnung.

Trotzdem hatte die erste U-Bahn der Welt Erfolg. Denn sie war billig. Und für viele die einzige Möglichkeit, von A nach B zu kommen. So ließ sich mit der Metropolitan Railway prächtig Geld verdienen. Erst 1890, also fast vier Jahrzehnte nach Eröffnung der Londoner U-Bahn, wurde das Dampfproblem gelöst, durch den Elektromotor. Das sind sie: Innovationen, die das Leben der Menschen mit einem Schlag verändern. Die schwere Geburt ist dann schnell vergessen.

Innovationen zerstören

Die Eisenbahn, genauer: die amerikanische Eisenbahnindustrie, war auch das Lieblingsbeispiel des Ökonomen Joseph Schumpeter, der sich intensiv mit der Rolle der Innovation und der schöpferischen Zerstörung des Bestehenden befasst hat. Die US-Regierung unterstützte in den 1830ern die Eisenbahngesellschaften durch riesige Landzuteilungen. Zusammen mit den Siedlern erschlossen sie den Kontinent Richtung Westen. Ende des 19. Jahrhunderts überzog ein gewaltiges Schienennetz alle Regionen der Vereinigten Staaten. Chicago war ein Kind der Eisenbahn, ebenso Omaha, Fort Worth, Denver und viele andere Städte.

Hunderte Neuerungen setzten sich durch, kleine und große. Riesige Summen Geldes wechselten den Besitzer. Mittels Aktiengesellschaften wurden gewaltige Investitionen möglich. Der Transport beschleunigte den Handel, ein einheitlicher Binnenmarkt entstand. Schumpeter sieht in dieser Transformation nicht allein das Werk des technischen Fortschritts, sein Interesse gilt dem historischen Prozess. Samt der Märkte, deren Rahmenbedingungen entsprechend zu justieren sind.

Dabei zeigt sich: Technischer Fortschritt hat ein Janusgesicht. Er löst Probleme und gebiert dabei beständig neue. Die wohl erste Beschreibung des Bumerangeffekts stammt von dem britischen Ökonomen Stanley Jevons Mitte des 19. Jahrhunderts: „Es ist eine vollständige Verwirrung der Ideen anzunehmen, dass der sparsame Gebrauch von Kraftstoffen zu einem geringeren Verbrauch führt. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Regel vielmehr, dass neue Formen der Sparsamkeit eine Zunahme des Verbrauchs nach sich ziehen, und war in vielerlei Hinsicht.“ Jevons nennt als Beispiel die Dampfmaschine des James Watt. Sie war ungefähr 17 Mal energieeffizienter als ihre Vorgängermodelle. Aber sie führte zu einem gewaltigen Anstieg des Kohleverbrauchs.

Der Bumerangeffekt spielt in der Sichtweise des Technikphilosophen Jacques Neirynck eine zentrale Rolle. Er zeigt, dass der Fortschritt in der Regel einen gesteigerten Forderungsdruck auf das jeweilige technische System und die Natur erzeugt. Weil durch bessere Technik der Zugriff auf mehr und andere Ressourcen möglich wird (zum Beispiel Ölbohrungen in der Tiefsee) und der Preis der Güter tendenziell sinkt. Aber selbst wenn fallende Preise in gesättigten Märkten keine direkten Nachfrageeffekte mehr erzeugen, sprich: wenn jeder Haushalt bereits über Computer, Fernseher, Auto etc. verfügt, selbst dann kann Effizienz zu verstärktem Konsum führen. Dann fährt man eben mit dem eingesparten Geld in den Urlaub – der indirekte Bumerangeffekt. Unterm Strich bleibt ein gewaltiger und immer noch zunehmender Druck auf das ökologische Trägersystem, die Erde.

Innovationen sozialisieren

Der Systemtheoretiker Franz Josef Radermacher sieht in diesem Prozess ein fundamentales Muster, das sich durch die gesamte Geschichte zieht. Den „Superorganismus Menschheit“ versteht er als ein Wissen generierendes, Wissen verbreitendes und Wissen tradierendes System. Zentral sind dabei Organisation, Technologie und Materialbeherrschung. Pfeil und Bogen sind Material gewordene Ideen, ebenso moderne Flugzeuge. Jede technologische Neuerung hat direkt oder indirekt zur Folge, dass mehr Menschen länger leben, mehr miteinander kommunizieren und sich immer mehr ausdenken.

Deshalb sehen wir heute überall tolle Ideen für regenerative Energiequellen und Speichertechnologie, intelligente Netze, neue Mobilitätskonzepte für Städte, nachhaltige Aquakultur, intelligente Materialien. Hinzu kommt eine umfassende Informatisierung der Lebens- und Arbeitswelt. Das Internet der Dinge ist längst im Werden: Alltagsgegenstände, Geräte und Waren werden addressierbar und lassen sich in Raum und Zeit verfolgen. Autos, Räume, ganze Produktionsstränge werden „intelligent“. Mobile Schnittstellen zum Internet sind allgegenwärtig, nach den Handys kommen die Datenbrillen und dann?

Die Geschichte der Technik und der Innovation von Gesellschaft und Ökonomie zeigt, wie unsere Vorfahren ständig Grenzen überschritten haben. Aller Rückschläge, Katastrophen und Kriege zum Trotz: Die Zahl der Menschen ist dabei ständig gewachsen. Im 21. Jahrhundert findet dieser Prozess ein Ende. Das rasante Tempo der Bevölkerungsentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten hat sich bereits verlangsamt. Irgendwann in der Mitte des Jahrhunderts wird es sich auf neun oder zehn Milliarden einpendeln. Aus vielerlei Gründen: Industrialisierung der Schwellenländer, Ressourcenknappheit, Überforderung, Stress. Ob dieser Übergang einigermaßen friedlich verläuft, wissen wir nicht.

Literatur:

Gunkel, Christoph: Bei Abfahrt Erstickungsanfall. 150 Jahre -Londoner U-Bahn. Spiegel Online 10.01.2013
Grübler, Arnulf: Technology and Global Change. Cambridge 1998
McCraw, Thomas K.: Joseph A. Schumpter. Eine Biographie. Hamburg 2008
Neirynck, Jacques: Der göttliche Ingenieur. Die Evolution der Technik. Renningen-Malmsheim 1998
Radermacher, Franz Josef; Beyers, Bert: Welt mit Zukunft. Die Ökosoziale Perspektive. Hamburg 2011

Bert Beyers ist Autor und Journalist in Hamburg. Er schreibt immer wieder für factory, zuletzt über Ökoinnovationen in Das Rad neu erfinden in der Zukunfts-Ausgabe Vor-Sicht.

Über die Wirkung von Transformationen und transformativen Produkte gibt es weitere interessante Beiträge im factory-Magazin Trans-Form. Das PDF-Magazin enthält zusätzliche Zahlen und Zitate, ist hübsch illustriert und gut lesbar auf Tablets und Bildschirmen. Einige Beiträge wie dieser hier sind auch online.

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