Baden gehen
Sechs Meter
Der Meeresspiegel steigt, die Ursachen sind bekannt. Die Sintflut kommt – und trifft die Falschen.
Von Joachim H. Spangenberg
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts steigt der weltweite Meeresspiegel. Allmählich ist es an der Zeit, das zur Kenntnis zu nehmen. Bis zu einem Meter Meeresspiegelanstieg bis Ende dieses Jahrhunderts hatte schon das IPCC in seinem 2013 verfassten und 2014 erschienenen Bericht vorhergesagt, wenn wir nicht binnen kürzester Zeit eine radikale Wende der Klimapolitik einleiten. Die Jugendlichen von heute werden diesen Anstieg noch erleben. Zwei Meter könnten es dann bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts werden, wenn wir so weitermachen. So weit, so ungut. Aber es geht noch schlechter.
Die Warnungen des IPCC waren noch mit der nahezu utopischen Hoffnung verbunden, durch wissenschaftliche Argumente den notwendigen Politikwandel voranzutreiben und so das Schlimmste zu verhindern. Zu spät: Die letzte Chance, einen massiven Meeresspiegelanstieg noch zu verhindern, ist seit Mai 2014 Vergangenheit. Wir haben den Kipp-Punkt passiert. Vor gut einem Jahr wurde das Abschmelzen des westantarktischen Eisschilds unumkehrbar; es ist durch welche Politik auch immer nicht mehr aufzuhalten. Dieser Effekt war vom IPCC so schnell nicht erwartet worden und erhöht die Prognosen um bis zu einem Meter. Offen ist die Frage, ob und wenn ja, wann der Worst Case eintritt, nämlich der Kollaps des gesamten Westantarktischen Eisschilds und mit ihm ein zusätzlicher Meeresspiegelanstieg (gegenüber der IPCC-Prognose) um 3,3 bis 4 Meter: Das wären dann fünf bis sechs Meter, nach den gegenwärtigen Modellen erwartet binnen 200 Jahren (im besten Fall innerhalb von 2000 Jahren). Andererseits hat die Erforschung früherer Warmzeiten gezeigt, dass so ein Kollaps auch in wenigen Jahrzehnten erfolgen kann – wobei man nicht vergessen darf, dass der Mensch die Erdtemperatur schneller erhöht als es die Natur jemals getan hat.
“Irreversibel, unumkehrbar, zu spät: Das sind hässliche Worte."
Damit kann man keine positiven Geschichten erzählen, keine Quizsendung gestalten, keine mediale Rettungsaktion starten oder wählerwirksam neue (unzureichende) Politikziele verkünden. Vielsagendes (Ver-)Schweigen füllt die Medien – oder haben Sie die Schlagzeile, die Sondersendung, die Regierungserklärung zum Thema „Flut nicht mehr vermeidbar – Politik hat versagt“ jemals gesehen? Wo bleiben die Entschuldigungen aller Regierungsparteien der letzten 25 Jahre, die Schuldanerkenntnisse von Wirtschaftsführern und Bankbossen, Gewerkschaftsvorsitzenden und Kirchenführern (einen gibt es da ...)?
Zur Zeit tragen die thermische Ausdehnung des Meerwassers, das Abtauen der Gletscher und das Abschmelzen der polnahen Festlands-Eiskappen in Grönland und der Antarktis jeweils gleichviel zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Der Beitrag der Gletscher wird längerfristig sinken (es gibt dann nicht mehr so viele), aber das wird durch das Abschmelzen der Eisschilde überkompensiert: Der Anstieg der Meere wird sich voraussichtlich noch in dieser Jahrhunderthälfte beschleunigen. Dass der Nordpol in der zweiten Jahrhunderthälfte eisfrei sein wird, erhöht den Meeresspiegel dagegen nicht (das Nordpoleis schwimmt auf dem Meer), verändert aber die Salinität, den Salzgehalt des Meerwassers, und damit die Meeresströmungen und erhöht wiederum die Albedo, das Rückstrahlungsvermögen, das die globale Erwärmung weiter beschleunigen wird.
Inzwischen melden die Forscher, dass auch das bisher als stabil geltende Eisschild im südwestlichen Inland der Antarktis schrumpft. Das Grönlandeis im Norden rutscht zwar nicht ins Meer, aber es verliert schneller an Masse als erwartet. Auch hier drohen Kipp-Punkte, aber noch wären sie zu vermeiden. Die aktuellsten Warnungen basieren auf Beobachtungen, Klimamodellen und der Untersuchung vergangener Warmzeiten. Die Modelle sagen voraus, dass, wenn sich das Abschmelzen binnen 10, 20 oder 40 Jahren verdoppelt, in 50, 100 oder 200 Jahren mehrere Meter Anstieg des Meeresspiegels zu erwarten sind. Und die Beobachtungen zeigen, dass wir uns zur Zeit im unteren Bereich dieser Spannweite von 10 bis 40 Jahren bewegen. Die letzte Zwischeneiszeit, als die Temperaturen rund ein Grad Celsius höher waren als heute, war durch einen 5 bis 9 Meter höheren Meeresspiegel und extreme Stürme gekennzeichnet.
“Wir versuchen nicht ernsthaft genug, die 2 Grad Celsius einzuhalten."
Das (Ver)Schweigen ist gefährlich. Es ist ein neues Versagen, das von altem Versagen ablenken soll. Das Überschreiten des ersten globalen Kipp-Punktes hätte das Signal sein müssen, dass weiteres Zögern nicht akzeptabel, sondern moralisch verwerflich ist. Es hätte ultimative Anstrengungen mobilisieren müssen, damit dieses Überschreiten einmalig bleibt, denn die Existenz weiterer Kipp-Punkte ist bekannt, nur nicht, wann sie erreicht werden. Aus Schaden wird man klug? Nicht der Mensch – wir werden stur, ignorant und verdrängen die Fakten. Was wächst, sind nicht Besorgnis und Bemühen, sondern die blinden Flecken. Wo ist der Plan für Paris, wo die Maßnahmenliste und die Verpflichtung der Staaten auf Strategien, die die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzen (weil bei 2 Grad Celsius weitere Schwellen überschritten sein können, wie prominente Klimaforscher warnen)? Die Klimawissenschaft hat geliefert, und diejenigen Ökonomen, die Abwarten für die günstigste Lösung hielten, sollten jetzt verstummen, statt Interviews zu geben und erst einmal durchrechnen, was der Verlust der Funktionsfähigkeit fast aller Küstenstädte sowie der küstennahen Infrastruktur die Menschheit kosten würde, von Naturlandschaften, Bodden, Feuchtgebieten, Mangrovenwäldern und Korallenriffen ganz zu schweigen.
Die Folgen dieser Ignoranz sind in einigen Ländern schon spürbar. So sind die Überflutungskatastrophen in Manila/Philippinen mit dadurch bedingt, dass hier der Meeresspiegel seit 1992, dem Jahr des ersten Welt-Nachhaltigkeitsgipfels in Rio de Janeiro, um über 20 cm angestiegen ist (Weltdurchschnitt: knapp 8 cm), und dass die Ärmsten der Armen in Siedlungen verdrängt wurden, die kaum über dem Meeresspiegel liegen. Wie Manila sind die meisten Küstenstädte der Welt gefährdet, von Megacities wie Tokyo und Shanghai, New York und Dubai bis zu Hafenstädten wie Hamburg, St. Petersburg und Marseille, Amsterdam und Kopenhagen. Mehr als 150 Millionen Menschen leben nicht mehr als einen Meter über dem Meeresspiegel.
Länder mit großen Flussdeltas werden besonders betroffen sein, besonders wenn diese – wie an Nil und Mekong, anders als am Amazonas und an der Donau – intensiv landwirtschaftlich genutzt werden und dicht besiedelt sind. Mit am heftigsten trifft es Vietnam: Nach Berechnungen der dortigen IPCC-Mitglieder wird der Meeresspiegelanstieg von einem Meter fast 40 Prozent des Agrarlandes im Mekongdelta überfluten, 15 Prozent der Agrarflächen im Mündungsbereich des Roten Flusses, und über 30 Prozent des Stadtgebiets der größten Stadt des Landes, Ho Chi Minh City, einschließlich ihrer Altstadt, Saigon. Vietnam, heute einer der größten Reisexporteure der Welt, wird sich dann nicht mehr selbst versorgen können (zumal das IPCC mit einem Rückgang der Ernteerträge um rund ein Viertel durch die geänderten Klimabedingungen rechnet) – aber von wo soll man exportieren, wenn alle betroffen sind, und wer stillt den Hunger dort, wohin bisher der vietnamesische Reis geliefert wurde?
“Die Opfer sitzen im Süden, die Täter im Norden (einschließlich China)."
Was tun? Nötig ist eine offene Debatte darüber, wie viel Meeresspiegelanstieg mit technischen Maßnahmen zu bewältigen ist, welche bestehenden Infrastrukturen, Immobilien und Anlagen bedroht sind, wie Überflutungen an der Küste und an den rückgestauten Flüssen zu verhindern sind, ob der Versalzung des Grundwassers begegnet werden kann, wie weit die Deiche zurückverlegt werden können (wo also Agrar- und Siedlungsflächen aufgegeben werden müssen und deshalb ab sofort keine Baugenehmigungen mehr erteilt werden dürfen), oder wie lange welcher Hafen noch zu halten ist. In Flutungsgebieten sollten keine Industrieansiedlungen stattfinden – Versicherungen sollten sich für die Risiken interessieren, Banken für den möglichen Wertverlust von Immobilien und Hypotheken. Es fehlt die klare Ansage, welche Gegenden bis zu welchem Niveau des Meeresspiegelanstiegs sicher geschützt werden, wie das geschehen soll, und ab wann die technischen und finanziellen Möglichkeiten erschöpft sind.
Das wäre wichtig für die Planung öffentlicher Infrastruktur von Straßen bis zur Wasserversorgung, denn die hält oft Jahrhunderte. Die U-Bahnnetze von Kopenhagen und Stockholm bestehen aus wasserdichten Tunneln, aber bei steigendem Meeresspiegel kann das Wasser durch die Eingänge laufen und die Tunnel fluten. Kopenhagen hat deshalb alle U-Bahn-Eingänge höhergelegt, auf 2,20 Meter über dem jetzigen Meeresspiegel.
Wie soll der nächste Schritt aussehen? Konkret: Wir brauchen in allen betroffenen Städten Konferenzen mit Bürgerbeteiligung, die mitentscheiden, was aufgegeben werden muss und was wie erhalten werden soll. Können Hafenstädte „seesicher“ gemacht werden? Bis zu welchem Niveau? Noch genauer: Kann die Elbphilharmonie in Hamburg eingedeicht werden? Für Häfen gilt das nicht. Ist die Innenstadt von Kiel noch zu retten, oder die restaurierte Altstadt von Lübeck? Bremerhaven muss wahrscheinlich aufgegeben werden, samt Auswanderermuseum und Klimahaus – sollte man die nicht schon jetzt verlegen?
Was kann der Einzelne tun? Venedig besuchen, solange es noch steht. Gletscher-Ski fahren, solange es noch Gletscher gibt. Die kleinen Inselstaaten besuchen, bevor ihre Einwohner den Widerstand aufgeben und statt dessen anfangen, die Koffer zu packen.
Was sollte man nicht tun? In der Po-Ebene investieren. Einen Altersruhesitz in Florida erwerben. Geld langfristig in Hafengesellschaften anlegen.?
Dr. Joachim H. Spangenberg ist Biologe, Ökologe und Volkswirt. Er ist Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Halle. Im factory-Magazin Wert-Schätzung schrieb er über Wert und Werte.
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