Change

Das Medium des Wandels

Wer sich mit den langfristigen Herausforderungen unserer Welt beschäftigt, steht staunend vor dem Phänomen Corona und sieht, wie eine Gesellschaft im Zeichen der Krise alle politischen und administrativen, zivilen und medizinischen, aber auch die Kräfte der Menschen mobilisieren kann und in kürzester Zeit ein soziales Immunsystem gegen die Pandemie aktiviert. Ist die Corona-Krise und ihr Handling also ein Präzedenzfall für die zukunftsfähige Umgestaltung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise? Ein kulturgeschichtlicher Rückblick soll das Transformationspotenzial von Krisen in den Blick nehmen und vorläufige Hinweise für kommende Krisen herausdestillieren. 

Von Bernd Draser

Bis vor wenigen Monaten war die Rede von Krisen in Deutschland immer abstrakt, also wörtlich losgelöst von der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung. Entweder fanden sie andernorts statt und wir waren ihre erschüttert-interessierten Zuschauer, oder aber sie blieben in ihren Wirkungen so abstrakt, dass sie sich nur medial vermittelt und nicht unmittelbar erfahrbar abspielten, sei es das ohnehin blockbusterhafte 9/11 oder die Finanzkrise ab 2007; oder als Katastrophen in weit entfernten Ländern wie der Tsunami im Indischen Ozean von 2004 und das Erdbeben in Haiti 2010.

Auch die bedeutsamen Krisen nach dem zweiten Weltkrieg sind aus (west-)deutscher Sicht zwar relevant, aber weder das gefährliche Jahr 1956 mit dem Ungarn-Aufstand und der sowjetischen Intervention noch die Suez-Krise berührten die Routinen des Alltags; die Tragweite der Kubakrise von 1962 wurde erst später deutlich. Der Mauerbau von 1961 und ihr Fall 1989 wurden abgefedert von der entlastenden alliierten Gesamtverantwortung; das bergende Bündnis und die rheinisch-heitere Bonner Republik brachen den Stachel dieser Erschütterungen. 

Seit dem zweiten Weltkrieg also sind Krisen für die deutsche Wahrnehmung stets die Krisen der anderen; sie erscheinen als Ereignisse, die sich in der medialen Rezeption nicht wesentlich vom sonntäglichen Tatort unterschieden. Oder, klassischer gesprochen: Wir Saturierten haben Übung darin, die Krisen der Welt wie Tragödien zu betrachten: Gerührt und erschüttert, wie Aristoteles es in der Poetik formuliert, aber in sicherer Distanz des Zuschauers, der kathartisch berührt das Theater verlässt. 

Nun aber, nach siebzig Jahren Friedenszeit, überspült uns erstmals eine globale Pandemie und krempelt unsere Routinen um – zwar milder als in vielen anderen Ländern, aber doch so deutlich und real, dass wir alle aus unseren Zuschauersesseln mitten unter die Akteure geschleudert werden – incipit tragoedia.

Krisen und ihre Zuschauer

In der Tragödie König Ödipus des Sophokles wird die Stadt Theben von der Pest geplagt, in ihrer Verzweiflung bringt man Opfer dar, um sich zu retten. König Ödipus macht sich wie ein Aufklärer daran, die Ursachen der Pest aufzudecken; mit Scharfsinn und Rücksichtslosigkeit enthüllt er, ahnend was kommt, sich selbst als Ursache allen Übels, weil er „schuldlos schuldig“, also unwissentlich seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat. Drei Dinge sind an dieser tragischen Konstellation für unsere Frage interessant:

Erstens das Tragische: Für uns Gegenwärtige kann Ödipus nicht subjektiv schuldig sein, weil er weder wusste noch wissen konnte, dass er sich schuldig machte. Die Zeitgenossen des Sophokles sahen Schuld aber nicht so vollständig an das Subjekt gebunden, sondern empfanden auch eine objektive Schuld (hamartia), die wir heute am ehesten mit Unreinheit oder Befleckung übersetzen würden; es ist eine rituelle und kollektive Schuld, die uns nach der Aufklärung unplausibel erscheint. 

An dieser Unterscheidung wird deutlich, warum es eine so große Kluft zwischen objektivem Wissen und subjektivem (Nicht-)Handeln gibt: Nicht ich habe die Industrialisierung begonnen, sondern unsere Vorfahren des 18. und 19. Jh. taten es; und was kann ich als Individuum mit meiner äußerst begrenzten Wirkungsreichweite schon gegen die Erschöpfung der Ressourcen und Überlastung der planetaren Grenzen tun? Ödipus stellt sich dem Schuldzusammenhang und ist dadurch tragisch im engen Sinn. Doch diesen tragischen Sinn haben wir eingebüßt.

Zweitens der Begriff der Katharsis: Aristoteles beschreibt die Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer als kathartisch, also reinigend. Die Zuschauer werden ergriffen vom Schrecken der Ereignisse und vom Mitgefühl mit dem tragischen Helden. Die kollektive Erschütterung hat einen entsühnenden Charakter, denn im Gegensatz zum Helden, der in seiner Hybris den Schuldzusammenhang nicht zu durchschauen vermag, kennen die Zuschauer ihn schon aus dem Mythos. Die eigentlich reinigende Kraft ist aber eine ästhetische: Es ist die schöne Sprache und Form, die gelungenen Verse und deren Vortrag. 

Drittens inszeniert Sophokles in seiner Tragödie nicht nur einen Mythos, sondern im Mythos auch die Realität seiner Gegenwart in Athen: Von 430 bis 426 wurde die Stadt, auch als Folge des peloponnesischen Kriegs, von einer Epidemie heimgesucht, der wohl etwa ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fielen, darunter auch Perikles, der Athens Aufstieg zur Hegemonialmacht geprägt hatte. Mit der Epidemie und dem verlorenen Krieg begann dann auch der allmähliche Abstieg Athens als politische Gestaltungsmacht, blieb aber für Jahrhunderte das intellektuelle Zentrum der antiken Welt. 

Sophokles schrieb seine Tragödie genau in dieser Zeit der Seuche; sie ist gewissermaßen der ästhetische Bewältigungsversuch einer Krise, die nicht nur für die Gesundheit der Menschen, sondern für die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes eine existenzielle Bedrohung darstellte. Auf die lange Frist ist uns diese Tragödie als Text der Krise geblieben. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“, schrieb Hölderlin 1803.

Der Name der Krise

Das Wort „Krise“ selbst ist, wie die Tragödie, griechischen Ursprungs und leitet sich vom Verb „krinein“ ab, das aus Wortfeldern von trennen, entscheiden und unterscheiden kommt; Auch das Wort „Kritik“ stammt von ihm ab. Eine Krise ist ein entscheidender Wendepunkt, er hat liminalen, also schwellenübertretenden Charakter, in ihm entscheidet sich Wohl und Weh des Ausgangs. In der Liminalität der Krise liegt aber nicht nur ihre Gefährlichkeit, sondern auch ihr Gestaltungsspielraum: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“, heißt es in Hölderlins „Patmos“, ebenfalls von 1803. 

Aristoteles verortet einen solchen Wendepunkt als entscheidende Handlung auch in der Tragödie und nennt sie „Peripetie“, die plötzliche Wendung. Die Peripetie ist gewissermaßen die Krise in der Krise, der Wendepunkt in der liminalen Phase. Im Filmgeschäft nennt man diesen Moment den Plot Point; in der Klimaforschung spricht man hingegen vom Tipping Point

Die terminologische Nähe ist kein Zufall, sondern ein Glücksfall. Diese Grundstruktur der Dramaturgie ist nicht nur ein narratives Element, sondern passt wie ein Schlüssel in das Schloss menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation. Für eine wirkungsvolle Nachhaltigkeitskommunikation liegen hinter dem Schloss noch reichlich ungeborgene Schätze, und nur allmählich wächst die Neigung, sie zu bergen, weil die Lust groß ist, Zukunft als Katastrophe zu beschreiben (so der Titel eines brillanten Bandes von Eva Horn). Das ist dann das alte Laster der Propheten.

Das Paradox der Prävention

Der alttestamentliche Prophet Jona, bekannt durch seine Reise im Bauch eines Wals, hatte den Auftrag, der Stadt Ninive die Umkehr zu predigen. Je nach Übersetzung verkündet er: „Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört bzw. wird untergehen.“ (Jona 3,4) Wider Erwarten fruchtet seine Prophetie, die Bewohner kehren um, die Stadt wird nicht zerstört. Jonas Reaktion aber ist verstörend: Er hadert mit Gott, weil der ihm erstens das Spektakel, zweitens aber das Rechtbehalten versagt. 

Das Phänomen ist auch in Nachhaltigkeitsdiskursen bestens bekannt: Das Waldsterben der Achtziger Jahre erwies sich als weniger folgenreich als befürchtet, was sich wenigstens zum Teil den eingeleiteten Gegenmaßnahmen verdankte. Der Kalte Krieg führte nicht zu einem nuklearen Overkill, und das Ozonloch schließt sich seit dem Abkommen von Montreal langsam aber stetig. Das könnte man als einen Erfolg der Aktivisten und der durch sie induzierten Gegenmaßnahmen feiern. Man kann die Jona-Prophetie wörtlich auch so übersetzen: „Noch vierzig Tage und Ninive ist umgewendet“: die Peripetie, der Plot Point. Aber einige Wortführer haben den prophetischen Zungenschlag des nahenden Untergangs gewählt, den Hans Jonas trefflich aber gutgemeint mit „Heuristik der Furcht“ benannte.

Dasselbe Phänomen wird in der Epidemiologie das Präventionsparadoxon genannt und in zwei Richtungen definiert, wie uns die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erläutert: Einerseits ist gemeint, dass einzelne Individuen von Präventionsmaßnahmen wenig profitieren, die Gesamtheit der Bevölkerung dagegen schon. Der Fall des Ödipus und der für ihn privat äußerst unzuträglichen „Heilung“ der Stadt. Andererseits meint das Präventionsparadoxon, dass durch den Erfolg von Impfschutzkampagnen die Akzeptanz für die Impfungen sinkt, weil die Krankheiten ihre Bedrohlichkeit verlieren und bevorzugt die Nebenwirkungen diskutiert werden. Der Fall bei der deutschen Corona-Bekämpfung: Die verhinderte Katastrophe wird als falscher Alarm gedeutet, oder schlimmer einer wie auch immer gearteten Verschwörung zugeschrieben. Und damit schlägt die Stunde der Idioten.

Der Vorgeschmack der Reaktion

Zu Beginn der Corona-Krise war viel von der Stunde der Exekutive oder des Staates die Rede, also von einer politischen Prävalenz. Die klassischen Athener bezeichneten mit „politikos“ alles, was die öffentlichen Angelegenheiten angeht, und als Personen diejenigen, die sich bereit erwiesen, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Das Politische war durch und durch positiv besetzt. 

Das spezifische Gegenteil von „politikos“ heißt „idiotikos“ und meint das Verharren in den je privaten Belangen, die Unerfahrenheit in öffentlichen Angelegenheiten, der Widerwille gegen Verantwortung. Schon nach wenigen Wochen erleben wir in vielen Corona-Diskursen die Stunde der Idioten, die überschaubare private Beschränkungen schwerwiegender empfinden als das Gemeinwohl, oder ganz konkret das Leben von Alten und Kranken. 

Das mag man, auch diesseits der absonderlichen Verschwörungserzählungen, sehen wie man will, für die Krise als Brennpunkt der Zukunftsgestaltung muss man jedoch daraus lernen, dass sie nicht nur Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft freisetzt, sondern auch stets das Gegenteil: In Krisen wird nur gestaltungsfähig, wer mit den erwartbaren irrationalen Gegenbewegungen rechnet. Die heftigen Reaktionen auf die vergleichsweise milden und zeitlich überschaubaren Kontaktbeschränkungen geben einen Vorgeschmack auf das, was eine durch Erschöpfung von Ressourcen und dem Kippen planetarer Grenzen dauerhafte Beschränkung unserer Lebensstile, unserer Routinen, unserer Produktionsweise an Widerstand erzeugen würde, wenn es einmal ernst wird. 

Lissabon und das Ende der Prophetie

Ernst wurde es für Lissabon am 1. November 1755. Zunächst erschütterte ein schweres Erdbeben die Stadt, zahlreiche Gebäude stürzten ein, noch mehr gerieten in Brand, wochenlang wüteten die Feuer. Kurz nach dem Erdbeben erreichte ein gewaltiger Tsunami die Stadt und verwüstete, was Beben und Brände noch nicht vernichtet hatten. 60.000 Menschen wurden getötet. Die vierte Katastrophe waren die zahlreichen Plünderungen: Wieder die Stunde der Idioten - Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili von 1806 zeichnet ein eindrückliches Bild davon. 

Die größte Erschütterung aber erfasste Europas Geisteswelt und das grundlegend optimistische Weltbild der Aufklärer, insbesondere Leibniz und seine „beste aller Welten“. Voltaire reagierte mit seiner Satire „Candide“, in der die Ereignisse von Lissabon eine zentrale Rolle einnehmen. Goethe berichtet in seinen Erinnerungen: „Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen.“ 

Es setzte sich aber eine Betrachtung durch, die das Tragische von seinen religiösen Ursprüngen löste und die Naturgewalten ihrer prophetischen Deutungen entkleidete. Sie waren nicht mehr das Eingreifen göttlicher Mächte, nicht mehr Ausdruck mythischer Schuldverstrickung, nur noch die gnadenlose Mechanik von Kausalität, die ohne Ansehen von Schuld und Unschuld wahllos alle der Vernichtung anheim gab. Es konnte kein Gott sein, der in Lissabon an Allerheiligen die Kirchen und Paläste hinwegfegte, die Bordelle aber unversehrt ließ. 

Lissabon wurde unter dem Günstling des Königs, dem späteren Marquês de Pombal wieder aufgebaut, resilienter als zuvor, und gerade in den letzten Jahren profitiert die Stadt vom autoritären Durchregieren Pombals, der tatkräftig anordnete: „Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden.“ Die Stunde der Idioten beendete er mit dem (nicht nur symbolischen) Aufstellen von Galgen. Die alten Eliten, der Hochadel und die Inquisition wurden marginalisiert, die erste empirische Forschung zu Erdbeben wurde eingesetzt. Die Stunde des Gestaltens, aber mit brachialen, mit autoritären Mitteln – auch das eine Warnung.

Design or Disaster?

Die Resilienz einer Gesellschaft und ihre Anpassungsfähigkeit an bestehende und kommende Veränderungen erweist sich erst in Krisen, die massiv alle bestehenden Routinen tangieren. Was sich dann zeigt, sind nicht nur Chancen, sondern auch Widerstände, die teils gut nachzuvollziehen sind, teils aber auch Obskurantismen genannt werden müssen. 

Der Weg zu einer zukunftsfähigen Resilienz unserer Gesellschaft und unseres Wirtschaftens führt zwischen Skylla und Charybdis: Auf der einen Seite die Prophetie des Untergangs, auf der anderen Seite eine sympathisch-muntere Veränderungslust, die allerdings unter einem Vorurteil des Guten Willens leidet: Sie geht davon aus, dass alle gleichermaßen veränderungsfreudig sein werden, wenn man sie nur mitnimmt: wie die Aufklärung vor Lissabon. Change by design or by disaster? Wer so fragt, meint selbstverständlich „Design“. Die Gestaltungskraft des Desasters, also der tragisch sich wendenden Krise, scheint aber höher zu liegen als die weise Vorsorge, ohne die es jedoch gar nicht geht. Es ist in der Tat tragisch. 

Was uns vor allem offen bleibt, ist der Weg Voltaires, ein heiterer Skeptizismus. Der hat einige Vorteile: Er neigt erstens nicht zum prophetischen Ton und zweitens nicht zu einer naiven Gutgläubigkeit an eine allgemeine Veränderungsbereitschaft. Und es ist drittens der Weg des Erzählens: Im Erzählen haben wir die langwierige aber wirksame Möglichkeit, langwährende Veränderung nicht nur erstrebenswert erscheinen zu lassen, sondern erstrebenswert zu machen. Incipit transformatio – Transformation beginnt.

Bernd Draser ist Philosoph und lehrt an der Ecosign-Akademie in Köln. Das Thema Freiheit des gleichnamigen factory-Magazins leitete er ebenfalls mit einem Beitrag ein.

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