Circular Economy
Die Kultur der Reparatur
Reparieren statt Neukauf, Service statt Ressourcenverschwendung: In einer zirkulären Wirtschaft gehört das Reparieren von Konsumgütern zum Lebensstil. Wie eine Kultur der Reparatur gefördert wird, zeigt Belgien. Das Land erreicht eine zehnmal höhere ReUse-Quote als Deutschland; dabei kaufen die Belgier exakt die gleichen Produkte wie die Deutschen.
Von Isabella Hafner
Wenn die Belgier shoppen gehen, gehen viele von ihnen auch zum Kringwinkel. Hier gibt es einfach alles: Fahrräder, Möbel, Bücher, Kleidung, Haushaltsgeräte… Der – übersetzt – Kreisladen ist mittlerweile in ganz Belgien verbreitet. Mehr als 130 Filialen sind es seit dem Start im Jahr 1993 geworden, allein im Jahr 2014 haben über fünf Millionen Kunden dort eingekauft und 45,5 Millionen Euro ausgegeben. Das ist kein Wunder, denn dahinter verbirgt sich eine gut durchdachte Kette, die sich prominente Standorte in den Fußgängerzonen sichert, flankiert von Magneten wie H&M und Zara. Kringwinkels haben sich sogar ein hippes Image erobert.
Dabei sind sie weder schmuddelig und lieblos, noch ramschig und zweitklassig – im Gegenteil. Und das, obwohl alle Dinge, die dort verkauft werden, bereits eine Vergangenheit mitbringen. Sie sind gebraucht, von einer oder häufig mehreren Personen benutzt. Ob kurz, oder lang; immer Second Hand.
Doch anders als in Deutschland richten nicht nur finanziell schwache Menschen, Sparfüchse oder alternativ angehauchte Liebhaber alter Dinge ihre Augen auf diese ausrangierten Sachen – die Kunden stammen aus allen gesellschaftlichen Milieus.
Geschäftsgrundlage dieses attraktiven Angebots sind gebrauchte Produkte, die die Belgier den Kringwinkels spenden und anschließend in sogenannten Wiederverwendungszentren aufbereitet werden. Die Basisprodukte gibt es zu einem einheitlichen Preis in allen Läden, das restliche Angebot variiert ständig, je nachdem, wovon die Menschen sich gerade trennen.
2014 sammelte die Kette nach eigenen Aussagen 55 Millionen Produkte ein. Sie rechnete aus, dass durch Vermeidung langer Transportwege der Rohstoffe und Produkte, des Energieaufwands für die Rohstoffgewinnung und das Recycling 66.000 Tonnen Kohlendioxid eingespart wurden. Das belgische Reparatur- und Second-Hand-Konzept setzt vor dem Recycling an. Viele Produkte müssen nur wieder in Stand gebracht werden. Dafür gelangt jedes zweite nicht ins Regal, da die Reparateure oft aus zwei defekten ein funktionierendes Gerät konstruieren.
Ticken die Belgier anders?
Spricht Nadja von Gries vom Wuppertal Institut über die flämischen Nachbarn, gerät sie ins Schwärmen. Sie forscht im Rahmen ihrer Promotion zu den Ressourceneinsparpotenzialen der „Vorbereitung zur Wiederverwendung“ von Elektro(nik)altgeräten – und damit an etwas äußerst Aktuellem. Hat sich doch mittlerweile weltweit herumgesprochen, dass Ressourcen knapp werden, dass sie teils unter elendigen Bedingungen zu Tage gefördert werden, dass Kriege darüber entstehen und dass die rund 60 Materialien für so ein kleines Gerät wie ein Handy von unzähligen Orten der Welt kommen. Viele westliche Regierungen fühlen sich zunehmend verantwortlich und treten aufs Bremspedal.
Belgien jedenfalls nimmt das ernst. Obwohl Studien sagen, dass die Belgier ein identisches Kaufverhalten wie die Deutschen zeigen, können sie eine zehn Mal höhere ReUse-Quote vorweisen. Besonders deutlich wird das bei Elektrogeräten: Während in Deutschland davon lediglich ein Prozent wiederverwendet wird, sind es in Belgien zwölf. Was ist das Geheimnis der Belgier? Ticken die Menschen dort anders?
Es liegt wohl eher am Konzept. Nadja von Gries sagt, Kringwinkel mache eben einiges richtig gut. „Die Läden sind eine richtige Marke geworden.“ Es gibt wie im großformatigen Retail üblich ein Kringwinkel-Magazin und Onlineshopping. Die Marke genießt Vertrauen. Gerade das fehlt Verbrauchern oft, wenn es um gebrauchte Elektrogeräte geht. Man kauft lieber neu, weil man sicher sein will, dass alles funktioniert – schließlich gibt es eine Garantie.
Die gibt es bei Kringwinkel selbstverständlich auch. Wer hier eine Waschmaschine kauft, erhält eine handelsübliche Gewährleistung. Funktioniert die Maschine nicht mehr, wird sie repariert oder man erhält ein Austauschgerät.
Zur Vertrauensbildung trägt auch das extra geschaffene Qualitätssiegel „Revisie“ bei. Die Waschmaschine erhält es erst, wenn sie die im Kringwinkel-Wiederverwendungszentrum von Sachverständigen durchgeführten, standardisierten Tests bestanden hat, etwa in Sachen Wasser- und Energieeffizienz.
Damit steht die Marke Kringwinkel für Qualität, sagt von Gries. „Den Kunden wird so die Furcht genommen, dass die neue alte Maschine bald Probleme bereiten könnte oder dass sie zwar brav weitergenutzt wird, aber als Energiefresser der Umwelt mehr schadet als eine fabrikneue.“
Zur gelungenen Strategie gehört das einheitliche Erscheinungsbild: Es ist genau vorgegeben, wie die Filialen gestaltet und die Waren präsentiert werden.
Hinter der Kette steckt der Dachverband Komosie, der sämtlichen Sozialunternehmern in Belgien ein Gesicht und eine Stimme verleiht. Die Idee aber stammt von öffentlichen, belgischen Wohlfahrtszentren, Umwelt- und Sozialorganisationen und wurde von der Regierung anfangs mit Haushaltsmitteln finanziell angeschoben. Denn das EU-Abfallrecht schreibt vor, dass jeder Hersteller eines Elektrogeräts dafür sorgen muss, dass es fachgerecht entsorgt werden kann. Komosie unterstützt nun, dass der Gebrauchtwarenhandel auf diese Abfallströme zugreifen darf.
Second Hand schafft Arbeitsplätze
Die 31 Wiederverwendungszentren, die flächendeckend existieren, sind miteinander vernetzt. Dort arbeiten – eine wichtige soziale Komponente – Menschen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt schlechte oder keine Chancen haben. Sie werden für die jeweiligen Reparaturen geschult. Mehr als 4500 Stellen sind so in Belgien entstanden. Nadja von Gries: „Als ich das gesehen habe, war ich wirklich beeindruckt. Aus zwei Waschmaschinen machen die einfach eine.“
Doch wie gelingt es einem Staat, dass seine Bewohner anfangen, Gebrauchtes zu kaufen statt die so genannte Wirtschaft mit Neukäufen anzukurbeln? Schließlich gilt immer noch: Wachstum, Wachstum und nochmal Wachstum ist das Gebot der Stunde. In Belgien ist das jedoch offenbar kein Widerspruch. Das flämische Abfallamt subventioniert Kringwinkel. Auch wenn das nur zwei Prozent der Kosten ausmacht, die für Löhne, Mieten und Ersatzteile anfallen. Die eine Hälfte übernimmt das Arbeitsamt, der Rest stammt aus dem Verkauf. Gut vorstellbar, dass im Falle transnationaler Freihandelsabkommen wie Ceta und TTiP Gerätehersteller dagegen klagen würden.
Zurück nach Deutschland: Hier sind die Kommunen verpflichtet, Sammelpunkte für Elektrogeräte anzubieten, etwa auf einem Wertstoffhof. Pro Einwohner und Jahr sollen durchschnittlich vier Kilogramm Elektro-Altgeräte gesammelt werden, schreibt die EU vor. Deutschland sammelt doppelt so viel und „übererfüllt“ damit laut Umweltbundesamt diese Vorgabe. Mittlerweile wurde das Sammelziel nochmals angehoben, ebenso die Recyclingquoten.
Doch kann man darauf wirklich stolz sein? Sagen diese Quoten nicht auch: In diesem Land verabschiedet man sich viel zu schnell vom mittelalten Fernseher? Bleibt man vielleicht in anderen Ländern seinen Geräten einfach länger treu?
So könnte man es interpretieren. Doch wenn schon Geräte entsorgt werden müssen, ist es immerhin gut, wenn die Wiederverwendungsquote höher ist als die des Recyclings. Reparieren statt ausschlachten. Wiederverwerten, gar nicht erst zu Abfall werden lassen. Produkte und Stoffe im Kreislauf halten.
Deutsche Modelle
Eine Art Kringwinkel ist auch in der 66.000 Einwohner zählenden Stadt Herford, östlich von Bielefeld, entstanden: eine Recyclingbörse. Nadja von Gries sagt: „Dort gibt es tolle Betriebe, die auch sozialwirtschaftlich arbeiten, gemeinsam mit der Kommune.“ Fünf Prozent der abgegebenen Elektrogeräte werden wieder nutzbar gemacht. Viel weniger als in Belgien, aber immerhin ...
Die Stadt hat mittlerweile das zwanzig Kilometer entfernte Bielefeld angesteckt: Auch dort entstand eine Recyclingbörse. Andere Orte folgten. Ähnliche Läden gibt es in ganz Deutschland, manche Wertstoffhöfe bieten Bauteilbörsen an, andere schaffen immerhin einen Bereich, wo Wiederverwendbares von Elektroschrott und Sperrmüll separiert wird. Dennoch hinkt Deutschland seinem Nachbar Belgien deutlich hinterher.
Der Verein WiRD (Wiederverwendungs- und Reparaturzentren in Deutschland) will, gefördert durch das Umweltbundesministerium, bis 2017 eine Dachmarke entwickeln, um bestehende Reparatur- und Recyclingzentren besser zu vernetzen und ein ähnliches Qualitäts- und Markenkonzept wie in Belgien zu erhalten.
Man kann natürlich seine Sachen auch selbst wieder in Schuss bringen. Aber ist das die Lösung? Das komfortablere Nachfolgemodell des Handys, dessen Akku bereits nach zwei Jahren versagt, bekommt man als Vertragskunde hinterhergeworfen. Vieles ist heute günstiger und nervenschonender, wenn man es neu kauft, statt es reparieren zu lassen – obwohl Rohstoffe seltener, teurer und begehrter werden. Diese absurde Situation ist eine neue Erscheinung in der Geschichte des Menschen und seiner Güter, ein Phänomen gesättigter Industriegesellschaften.
Und dann ist da noch das Problem mit dem Design. Manche Hersteller konstruieren und fertigen ihre Geräte wie Handys so, dass Einzelteile nicht ausgetauscht werden können. Verkleben sie entweder miteinander, oder bauen sie so, dass sie kurz nach Ablauf der Garantie ihren Geist aufgeben. Weil sie Billigkomponenten verwenden oder hitzeempfindliche Materialien an wärmeentwickelnden Stellen platzieren. Absichtlich? Dies ist oft schwer nachzuweisen, wie man in Frankreich sieht. Dort wurde vor kurzem ein Gesetz eingeführt, dass diese sogenannte geplante Obsoleszenz – die willentlich herbeigeführte, verkürzte Lebensdauer – eindämmen soll. Ein Hersteller kann dort mit bis zu zwei Jahren Haft und 300.000 Euro bestraft werden.
In Deutschland hat im Jahr 2014 der Betriebswirtschaftler Stefan Schridde mit seinem Buch Murks? Nein danke! aufgerüttelt. Er machte die geplante Obsoleszenz zum Tisch-Thema. Die Bundestags-Grünen beauftragten ihn daraufhin mit einer viel beachteten Studie.
Hat unsere Wegwerfgesellschaft dennoch das Potenzial zur Reparaturkultur? Es besteht Hoffnung, sieht man doch allerorts Repair-Cafés – die auch mal Elektronikhospital oder Café Kaputt heißen können – aus dem Boden sprießen. Vor drei Jahren gab es in Deutschland ganze zwölf Initiativen, heute sind es bereits mehr als 500.
Junge, mittelalte und alte Menschen, Handwerker in Rente, Hipster, Tüftler, Idealisten, Sparer und Computer-Nerds treffen sich in Gemeindehäusern, Turnhallen und Werkstätten, um sich mit Lötkolben und Schraubenzieher gegenseitig dabei zu helfen, Stuhl, Rad oder die Waschmaschine wieder in Gang zu bringen. Und damit die Wachstumsmaschine vom (Ressourcen-)Schleuder- in den Schonwaschgang umzuschalten. Sozial-ökologische Transformation bei Kaffee und Kuchen sozusagen.
Neues Selbstbewusstsein
Warum das funktioniert, weiß die Soziologin Andrea Baier. Sie analysiert bei der Münchner Anstiftung die Reparaturszene. Die Stiftung vernetzt die Szene durch ihre Internetplattform, gibt Reparatur-Tipps und organisiert Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch. „Eine wachsende Zahl von Menschen will es sich nicht mehr gefallen lassen, Altes durch Neues ersetzen zu müssen, sobald etwas kaputt geht“, sagte Baier schon im factory-Magazin Selbermachen. Indem sie ein Repair-Café besuchen, wehren sie sich gegen diese Form der Entmündigung. Hinzu komme, dass immer mehr Menschen ihre Alltagsgegenstände wieder verstehen, deren Innenleben entdecken, Hand anlegen und kompetent werden wollen. Und das bei Gegenständen, die Roboterhände geschaffen haben.
Natürlich wollen die Reparateure von heute auch Müllberge verhindern. Zwischen 50 und 80 Prozent der kaputten Geräte können sie im Schnitt wieder in Stand setzen. Oft hängt der Erfolg von der Verfügbarkeit der Ersatzteile ab.
Doch welche Schlagkraft, welchen „Impact“ hat die Reparaturszene in Deutschland? Ist sie vielleicht nur eine nette Randerscheinung für Menschen mit zu viel Zeit? „Die Regierung fördert die Szene nicht, beobachtet sie aber und nimmt sie immerhin als soziale Innovation wahr“, sagt Andrea Baier. „Das Ganze ist noch immer eine rein zivilgesellschaftliche Angelegenheit.“ Aber mit Strahlkraft auf jeden einzelnen, der mitmacht. Der dann süchtig danach werden kann, Dinge selber zu machen, wenn er merkt, dass vieles kein Hexenwerk ist.
Baier bilanziert: „Durch das Reparieren verändert der Einzelne sein Verhältnis zu den Dingen, geht anders durch die Welt, überlegt sich, was wo wie produziert wird, konsumiert anders. Das ist das eigentlich Wichtige.“
Wird unsere Wirtschaft kollabieren, wenn mehr Menschen lieber reparieren und Repariertes statt Neues kaufen? Erstens muss klar sein, dass die herkömmliche Wirtschaft nicht mehr auf die alte Weise wachsen kann – sie es auch längst nicht mehr tut. Zweitens könnten Handwerker vom wiedererweckten Reparatursinn profitieren: der Schneider, die Schusterin, die Radwerkstatt.
Nachdem jetzt zwei Generationen „Wegwerfgesellschaft“ dominierten, schlägt vielleicht das Pendel zurück. Immer mehr Menschen denken dabei an die Großeltern. Für die war klar: Der Knopf ist ab, ich nähe ihn wieder an, der Wollpulli ist nicht mehr hübsch, ich trenne ihn auf und stricke einen neuen, die Sohle ist runter, ich bringe den Schuh zum Schuster, die Uhr ist kaputt, der Uhrmacher muss ran. Schaut man in Entwicklungsländer, stellt man fest, dass dort das Reparaturwissen nie verloren gegangen ist, stets Teil der Alltagskultur war. Mit großer Selbstverständlichkeit und viel Einfallsreichtum verwandeln dort Menschen Altes in Neues. Gleichzeitig ist ihr ökologischer Fußabdruck viel geringer als der unserer Industrienationen.
Dass wir wieder in diese Richtung denken lernen müssen, haben die Schweden begriffen. Die Regierung will Reparieren fördern, indem etwa die Leistung des Schusters steuerlich absetzbar ist. Zudem wird die entsprechende Umsatzsteuer von 25 auf 13 Prozent gesenkt, damit Kaufen nicht die günstigere Alternative ist.
Doch was helfen all die Reparaturrevolten, wenn die Produkte so gemacht sind, dass man sie nicht reparieren kann? Hier müssen alle an einem Strang ziehen: Politik, Produktdesigner, Hersteller. Andrea Baier wünscht sich von der Politik ein Siegel, das reparierfreundliche Produkte auszeichnet. Die man leicht auseinanderbauen kann und deren Ersatzteile überall verfügbar sind. Positive Bestärkung in Deutschland statt Strafe wie in Frankreich. Dem eben mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichneten Fairphone wäre so ein Siegel sicher – ein zweites Preisschild eben.
Isabella Hafner ist freie Journalistin in Neu-Ulm. Sie hat in Lüneburg Nachhaltigkeit und Journalismus studiert. Im factory-Magazin Utopien schrieb sie über konkrete Inseln gegen den Strom.
Mehr Beiträge zum Themenspektrum Circular Economy oder Kreislaufwirtschaft, zu Remanufacturing, Repair und ReUse, zu Zero-Waste und Möglichkeiten einer neuen Wirtschaftsordnung finden Sie im factory-Magazin Circular Economy. Das PDF-Magazin ist kostenlos herunterladbar und lässt sich besonders gut auf Tablet-Computern und am Bildschirm betrachten. Vorteil des Magazins: Es ist durchgehend gestaltet und enthält sämtliche Beiträge, Fotos und Illustrationen sowie zusätzliche Zahlen, Zitate und eine Wordcloud – während online zunächst nur wenige Beiträge verfügbar sind.
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